Hanser Feb. 2024 10,00 € 64 S.
Kindler Aug. 1988 224 S.
Am 29. April 1987, anlässlich des 20. Jahrestags des Sechstagekriegs, veröffentlichte David Grossman, damals gerade einmal 33 Jahre alt, eines der bedeutendsten Werke, die in Israel zur palästinensischen Frage erschienen sind: Die gelbe Zeit. In den nichthebräischen Sprachen erhielt das Buch den Titel Der gelbe Wind. Zwei Titel für dieselbe Geschichte – einer für die Gleichgültigkeit, der andere für die Katastrophe. Das Buch dokumentierte Grossmans Reisen durch das Westjordanland. Der gleichgültigen israelischen Öffentlichkeit enthüllte es die kranke, gewalttätige Realität der Besatzung und warnte, dass ihre anhaltende Nichtbeachtung zur Katastrophe führen würde. Ein halbes Jahr später brach die Erste Intifada aus.
Die gelbe Zeit wurde zur Kult-Lektüre. Schon 1987 wurde das Buch als Theaterstück adaptiert. Es wurde ins Englische, Deutsche, Arabische und in andere Sprachen übersetzt. Der Titel fand sich in Pop-Songs wieder, 1988 sang Schlomo Artzi: «Gelbe Zeit, so nennt Grossman die schlechte Lage», und ein Jahr später provozierte Nurit Galron mit einem Protestlied, in dem es hieß: «Und es ist mir egal, was in den besetzten Gebieten passiert, erzähl mir nichts von gelber Zeit, von Gefangenen und Rebellen, lass uns Liebe machen, lasst uns leben, Tel Aviv ist das Leben.»
In der Tat deutete der hebräische Titel von Grossmans Buch – Die gelbe Zeit – auf den Bewusstseinszustand hin, mit dem die jüdische israelische Öffentlichkeit auf die Schrecken der Besatzung reagierte: auf die Nichtachtung, die Gleichgültigkeit, die seelische Dürre. «Seit zwanzig Jahren leben wir in einer verzerrten und absurden Situation, die auf Illusionen beruht, auf einem fragilen Gleichgewicht zwischen Hass und Angst, in einer emotionalen und kognitiven Wüste, und die vergehende Zeit wird allmählich zu einer getrennten, schweren Entität, die wie eine erdrückende Schicht aus gelbem Staub über uns hängt.»
Der junge Grossman schloss seine Eindrücke mit einer Prophezeiung von Hass und Rache ab: «Es gibt Leute, die sagen, dass man so noch Jahre weitermachen kann. Dass mit der Zeit das ‹Lebensgewebe› (Bekanntschaften, wirtschaftliche Beziehungen usw.) den Hass überwiegen wird. Das ist Unsinn, und die Realität beweist dies bereits jetzt. Und je mehr sich das derzeitige ‹Lebensgewebe› fortsetzt, desto klarer wird, dass es um eine eiserne Faust aus Hass und Rachesucht gewoben ist (…), und eines Tages werden wir in einer bitteren Überraschung erwachen (…) Die Weltgeschichte hat gezeigt, dass ein Zustand wie der, den wir hier aufrechterhalten, nicht von Dauer sein kann. Und wenn er andauert – fordert er einen tödlichen Preis.»
Diese Prophezeiung bewahrheitete sich einige Monate später und hat seither nicht aufgehört, sich zu bewahrheiten. Über den schrecklichen Zorn des 7. Oktober 2023 allerdings findet sich in Grossmans Buch von 1987 eine ganz besondere Weissagung aus dem Mund eines palästinensischen Greises, Abu Harb, «Vater des Krieges». Als er den hebräischen Titel des Buches vernimmt – Die gelbe Zeit, Ausdruck der Gleichgültigkeit gegenüber der Besatzung – kommt dem Palästinenser eine arabische Wendung in den Sinn, rih asfar, «der gelbe Wind», der Name der Katastrophe:
«Aus dem Tor der Hölle wird der Wind kommen … Ein heißer, furchterregender Ostwind, der alle paar Generationen kommt und die Region entflammt, und die Menschen fliehen vor seinem Zorn in die Höhlen und Felsspalten, aber selbst dort holt er die ein, die er haben will, die Unrecht- und Grausamkeitstäter, und dort, in den Felsenklüften, tötet er sie, einen nach dem anderen. Nach so einem Tag, erzählt Abu Harb, wird das Land mit Leichen bedeckt sein. Die Felsen werden vom Feuer gebleicht sein und die Berge zu einem gelben Staub zerfallen, der auf dem Land liegen wird wie gelbe Baumwolle.»
Die Kritik reproduziert, was sie kritisiert
Ein historisches Ereignis wie eine Besatzung oder ein Krieg ist nicht nur aus der Perspektive des Obsiegens der treibenden Kräfte zu verstehen, sondern auch aus der Perspektive des Versagens der widerständigen Kräfte. Die Stärke der einen und die Schwäche der anderen sind miteinander verknüpft und wirken in gewisser Weise in der Totale zusammen. Im Falle Israels reicht es nicht (wie viele kritische Stimmen es tun), auf die derzeitige Regierung, die Korruption an ihrer Spitze, auf ihren Nationalismus, Rassismus und Autoritarismus und auf die Dominanz der Rechten zu zeigen, um das Wesen der gegenwärtigen Katastrophe zu verstehen. Um die Tiefe der Krise zu erfassen, muss man auch die Schwäche der Opposition und die Ohnmacht dessen betrachten, was man als ‹links› bezeichnet: demokratisch, liberal, humanistisch, gut.
Es gibt heute kaum eine Figur, die den israelischen Humanismus auf so vorbildliche Weise verkörpert wie David Grossman. Seine Bücher haben auch mein politisches und poetisches Bewusstsein als Jugendlicher im Haifa der 1980er und 90er Jahre geprägt. Stichwort: Liebe und Der Kindheitserfinder haben mir gezeigt, was Literatur ist, zu welcher Sensibilität die Seele fähig ist. Ich erinnere mich noch an das Staunen, an den Schwindel, den die Worte, die ich nicht fassen konnte, in mir verursachten. Das Lächeln des Lammes, Grossmans Debütroman über die Besatzung, begleitete mich während meines Militärdienstes in den besetzten Gebieten. Das habe ich ihm gesagt, als ich ihn eines Tages in Tel Aviv an einem Zebrastreifen traf. Seine Kinderbücher habe ich Jahre später meiner Tochter in Berlin vorgelesen.