Es dauerte nicht lange, bis die Sprache auf das Thema Migration kam. Unmittelbar nach dem von der Hamas am 7. Oktober 2023 verübten Pogrom und dem anschließenden Krieg in Gaza ist in Deutschland eine Debatte um den Umgang mit Menschen entbrannt, die eingewandert sind und sich gegen den jüdischen Staat stellen. Politiker:innen wie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst plädieren dafür, dass ein «Bekenntnis zum Existenzrecht Israels» künftig Voraussetzung für das Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft wird. Andere, wie die CDU-Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann, fordern gar, dass «antisemitische Mehrstaatler» ausgebürgert werden.
Hinter solchen Aussagen steckt die Überzeugung, dass Antizionismus und Antisemitismus in Deutschland eng mit Migration verbunden sind. So riet der stellvertretende Parteivorsitzende der FDP, Wolfgang Kubicki, im Dezember 2023 vor einem von der Ampel-Koalition geplanten beschleunigten Einbürgerungsverfahren ab, mit dem Hinweis, dass «importierter Antisemitismus» heute ein «massives Problem» darstelle. Friedrich Merz antwortete in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung auf die Frage, ob Deutschland Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aufnehmen solle: «Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land.» Und in der Zeit war aus der Feder des Soziologen Armin Nassehi zu lesen, dass in Deutschland eine «migrantische Realität» existiere, «die zumindest im Hinblick auf dieses Thema derzeit kaum zivilisierbar erscheint».
Um wen aber genau geht es in dieser Debatte? Die Antwort auf diese Frage bleibt häufig vage. Nicht zufällig findet sich bei Nassehi die schwammige Formulierung von einer «migrantischen Realität». Oft werden auch bestimmte Stadtviertel als Chiffre benutzt – man müsse doch nur nach Neukölln oder Duisburg-Marxloh schauen. Manche Politiker:innen präzisieren, dass es sich bei «importiertem Antisemitismus» vor allem um ein Problem unter «Muslimen» und «Arabern» handele. Schließlich werden auch immer wieder explizit Palästinenser:innen angesprochen. Trotz dieser mutwilligen Vagheit herrscht Einigkeit darüber, dass es sich um ein neues oder wenigstens dramatisch verändertes Problem handelt. Friedrich Merz verwies in seinem Interview auf die sogenannte «Flüchtlingskrise» als einem der Gründe für den derzeit grassierenden Antizionismus und Antisemitismus in Deutschland. Er stimmte einer Aussage Karl Lagerfelds zu, der 2017 in der französischen Talkshow «Salut Les Terriens» Angela Merkels Flüchtlingspolitik mit den Worten kommentiert hatte: «Man kann nicht (…) Millionen Juden töten, um dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde ins Land zu holen.»
Zwei Archive, zwei Realitäten
Doch ist die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Migration, Antizionismus und Antisemitismus in Deutschland tatsächlich so neu? Eines der herausstechenden Merkmale der aktuellen Debatte ist ihre Geschichtsvergessenheit. Denn Deutschland blickt auf eine lange Geschichte palästinensischer Migration zurück. Konflikte um eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber Israel sind spätestens seit den 1960er Jahren ein zentraler Bestandteil dieser Migrationsgeschichte. Die palästinensisch-deutsche Vergangenheit wird jedoch heute weitgehend vergessen. In den Aussagen von Politiker:innen und Journalist:innen finden sich so gut wie keine Hinweise auf die Jahrzehnte palästinensischer Einwanderung nach Deutschland. Diese Leerstelle offenbart ein allgemeines Unwissen über den Status der Bundesrepublik als Land mit der größten palästinensischen Diaspora in Europa.
Ein Grund für das Vergessen palästinensischer Migration liegt in der Logik und Systematik deutscher Archive. Da «Palästinenser» keine staatlich anerkannte Nationalität war, finden sich unter diesem Stichwort in den Akten bundesdeutscher Behörden kaum Quellen zu palästinensischer Migration. Menschen, die etwa in den 1960er Jahren aus Ramallah, Ost-Jerusalem oder Gaza nach Westdeutschland kamen, wurden als «Jordanier», «Palästinaflüchtlinge», «Araber» oder «Staatenlose» eingeordnet. Im Gegensatz zum Schweigen deutscher Archive bieten palästinensische Quellen ein lebhaftes Bild palästinensisch-deutscher Migrationsgeschichte. In den letzten sieben Jahren habe ich im Rahmen eines Forschungsprojekts solche Quellen ausgewertet, die sich heute weit verstreut an ganz unterschiedlichen Orten befinden, von einem Museum in der Westbank über das Institute for Palestine Studies in Beirut bis hin zu einer digitalisierten Sammlung an der Universität Oxford. Die dort erhaltenen Autobiografien, Fotos, Briefe und Interviews offenbaren, dass sich die Bundesrepublik seit den späten 1950er Jahren zu einem beliebten Ziel vorwiegend männliche junge Palästinenser entwickelte, die den Nahen Osten verließen.
Etwa 700.000 Palästinenser:innen flohen im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 in die Nachbarländer des jüdischen Staats. Jordanien, das 1950 die Westbank und Ost-Jerusalem annektiert hatte, wurde zum Nachbarland mit der größten Bevölkerung aus dem ehemaligen Völkerbundsmandat für Palästina. Arbeitslosigkeit und schlechte Bildungschancen, insbesondere das Fehlen von Hochschulen, bewegten zahlreiche junge Palästinenser bald zur Auswanderung. Eines ihrer Ziele: die Bundesrepublik. Aus der Autobiografie des späteren Fatah-Funktionärs William Nassar erfahren wir, dass Westdeutschland Anfang der 1960er Jahre «der Traum» für Studium oder Arbeit vieler junger, in Jordanien gestrandeter Palästinenser:innen war. Aus palästinensischer Sicht sprachen vor allem die vergleichsweise günstigen Lebenshaltungskosten, die Möglichkeit, eine Arbeit zu finden, und der gute Ruf der Universitäten für die Bundesrepublik.
Private Nachlässe aus dem Palästina-Museum in Bir Zait enthalten zahlreiche Fotografien und Briefe, die an die Migration nach Westdeutschland in den 1960er Jahren erinnern. Ein gewisser Hasan Othman Arar aus einem Dorf bei Ramallah schickte seinen Eltern beispielsweise ein Foto, das ihn mit Arbeitskollegen bei der Firma «Eisen-Fuchs» in Stuttgart zeigte. Der in Jaffa geborene Ibrahim Lada’a spendete dem Museum Teile der Korrespondenz aus der Zeit seines Medizinstudiums Mitte der 1960er Jahre in Würzburg. Zu dieser Korrespondenz gehört ein Foto, das Lada’a 1964 von seiner Mutter, Linda al-Sayigh, erhielt. Al-Sayigh hatte ihr Porträt im Fotostudio «Venus» in Ramallah aufnehmen lassen und schickte es ihrem Sohn, damit er sie auch in der Ferne in Erinnerung behielt. In der Sammlung des Palästina-Museums finden sich einige solcher Porträts, die ausgewanderte Palästinenser und ihre Familienmitglieder hin- und herschickten, um die Distanz zwischen Westdeutschland und dem Nahen Osten zu verringern.