Während meiner Reise in die Ukraine Ende Juli 2023 bewege ich mich im Strom Reisender und Geflüchteter. Letztere kehren für ein paar Wochen oder vielleicht Tage in ihre Häuser zurück und schauen auf das zurückgelassene Leben, fast so, als prüften sie, ob man schon heimkehren kann. Oft scheint es, dass es keinen Weg zurück mehr gibt. Dann, plötzlich, vergeht dieses Gefühl.
Eine junge Frau aus meinem Waggon, aus dem Nachbarabteil, will über Kyjiw nach Charkiw weiterfahren. Diese Stadt lebt gerade in einem unaufhörlichen Luftalarm. Der Alarm wird derart häufig ausgerufen, dass es üblich ist, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken. In Wellen kommen die Tage und Wochen, an denen die Alarmsignale in Charkiw alle zwei Stunden erklingen. Sich zu verstecken hat keinen Sinn. Die Läden haben weiterhin geöffnet und es bleibt einem nichts anderes übrig, als über jegliche Bedrohung aus der Luft auf fatalistische Weise nachzudenken.
Kyjiw hingegen erscheint mir gerade wie ein weniger gefährlicher Ort, obwohl auch dort die Splitter von Raketen oder Drohnen ganze Etagen von Büro- und Wohngebäuden zerstören. Seit dem Frühjahr ist Kyjiw andauernden, erschöpfenden Attacken ausgesetzt. Ich weiß, dass meine älteren Verwandten über Wochen und Monate an Schlaflosigkeit leiden. Nachts, während des Luftalarms, setzen sie sich in ihrem kleinen Korridor auf den Boden, um den Beschuss am sichersten Ort der Wohnung zu überstehen. Um in den Schutzbunker zu gehen, fehlt ihnen die Kraft.
Es wird oft darüber gesprochen, dass der Krieg die ukrainische Gesellschaft zusammenbringt. Aber mir scheint, dass die Erfahrung, in einer etwas geschützteren Stadt zu leben, nicht vergleichbar ist mit dem, was die Städte mit nahezu ungeschütztem Himmel erleben. In den halb zerstörten Häusern des Stadtteils Saltiwka in Charkiw, wo es vielerorts keine ununterbrochene Strom- und Gasversorgung mehr gibt, leben schon wieder Menschen. Die Stadtbewohner kehren aus den europäischen Städten wie auch aus dem sicheren Westen der Ukraine nach Charkiw zurück. Für so eine Rückkehr kann es verschiedenste Gründe geben. Sie alle aufzuzählen, hätte keinen Sinn; es sind genauso viele wie die, die zum Wegfahren bewegen.
Die ukrainische Künstlerin Alina Kleytman ist jetzt in Charkiw. Gestern erzählte sie mir davon, wie sie mit einer Kamera Orte ihrer Kindheit besuchte, irgendwo in den Tiefen von Saltiwka. Sie sah fast bis auf die Grundmauern zerstörte Häuser, wo hinter einer einzigen heil gebliebenen Fensterscheibe abends noch Licht brannte.
Eine wie durch ein Wunder verlegte Stromleitung oder eine Lampe, die im Akkubetrieb läuft: Das Feuer des «häuslichen Herdes» inmitten der Ruine beschwört wohl ein Bild herauf, das an die Kulissen eines Filmes über die letzten Tage der Menschheit erinnert. Die Ruine erhält ihren Sinn ausgerechnet durch das Leben, das ihr diejenigen einhauchen, die hartnäckig an dem Ort bleiben, dem sie verbunden sind. Ohne dieses Feuer wäre so ein Ort nur ein toter Steinhaufen. Es ist, als ob das brennende Fenster eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen würde. Es bezeugt mehr als nur die pure Zerstörung.
Als Alina und der sie begleitende Fotograf versuchten, ein paar Fotos zu machen, kamen aus dem Keller des Hauses, gewissermaßen aus dem Nirgendwo, Menschen und begannen, wortlos Schotter und kleine Steine aufzuheben und in ihre Richtung zu werfen. Niemand versuchte, die ungebetenen Gäste zu verletzen. Man forderte sie nur dazu auf, sofort wegzugehen.
Ich vermute, der Gedanke, dass diese Katastrophe für jemanden zum Spektakel oder zum «Erinnerungsfoto» werden könnte, und sei es in Form einer Reportage über die Kriegszeit, erschien den Bewohnern dieses Hauses unerträglich. Die Kluft zwischen jenen, die herkommen, um das Geschehene zu dokumentieren und denjenigen, die es ununterbrochen erleben, ist zu groß geworden. Meine Freundin versuchte niemanden zu überreden oder ihre Absichten zu erklären. Sie ging unverzüglich weg.
Ist es möglich, eine Realität zu dokumentieren, die weder der Fotograf noch die Menschen, die auf dem Bild erscheinen, akzeptieren wollen? Sie gleicht allzu oft einem wiederkehrenden Albtraum, besonders wenn die Medien eindringen, um diese Realität darzustellen und zu reproduzieren. Ohne solche Darstellungen kann man in dieser Realität leben, indem man sich auf die Kleinigkeiten und alltäglichen Sorgen konzentriert. Man muss sich dann nicht auch noch den gleichgültigen, interessierten oder mitleidigen Blick des Betrachters vorstellen. Ohne Darstellung kann man sich etwas Zeit nehmen, um nur mit dem eigenen Blick umgehen zu lernen.
Ich stelle mir diese Fragen. Dieses Fragment eines Kriegstagebuches scheint mir von vornherein sinnlos zu sein, weil es zu einem Zeitpunkt geschaffen wird, an dem ein Ende des Krieges nicht sichtbar ist. Während ich schreibe, entwickle ich gegen meine eigenen Gedanken den Verdacht, dass sie den Krieg normalisieren könnten. Ich spüre die Gefahr, dass der Krieg zu einem rechtmäßigen Zustand wird, mit dem man rechnen musste wie mit einem ordinären Geschehen. So hielt ich früher Kriegsgesetze für verbrecherisch, da sie Mord und Vernichtung auf eine bestimmte Weise legitimieren. Aber in diesen Kriegsmonaten beginne ich, meine Ansichten auf diese Gesetze zu gründen. Sie enthalten die Überreste von Vorkriegsvorstellungen über die Menschenrechte.
Meine junge Waggon-Nachbarin fuhr nach Charkiw, ohne jeden Zweifel daran, dass sie dort in Sicherheit sein und dass schon «alles gut» werden würde. Sicherheit verlieh ihr der Gedanke, dass ihre Verwandten im Laufe des gesamten Krieges genau in Saltiwka gelebt haben und leben, in der am stärksten betroffenen Wohnsiedlung der Stadt.
Wir standen nebeneinander im Korridor, gegenüber von unseren geschlossenen Abteilen, in denen unsere Nachbarn schliefen. Vor meinen Augen entfaltete sie ihr sorgfältig verpacktes Reisefrühstück und teilte mir mit, dass sie im Haus ihrer Schwester übernachten werde, einem mehrstöckigen Gebäude, dessen Nachbarhaus vollständig zerstört ist. Sie sprach langsam und brach dabei kleine Brotstücke ab. Sie lächelte überhaupt nicht und wirkte auf ruhige und sachliche Art freundlich. An uns fuhren lange Wagenzüge vorbei, sie blinzelte unter dem stoßweise einfallenden weißen Licht. Wir befanden uns an der Grenze zur Ukraine und mir schien, dass ich dieses sommerliche direkte Licht wiedererkannte, als etwas Vertrautes und Nahes, das ich vermisst hatte, ohne mir dessen bewusst zu sein.
Ich erinnere mich, meine Weggefährtin benutzte im Zusammenhang mit dem Haus ihrer Schwester die Wörter «schwarz» und «ausgebrannt» auf eine Weise, als hätte sie diese tausendmal zu sich selbst gesagt, um sich an sie zu gewöhnen – um die Wörter zu «entminen», die stärker auf die Fantasie einwirken als jedes Foto. Ich jedoch spürte, dass diese Wörter für mich überhaupt nicht entmint waren und fing wieder an, eine viel zu große Sorge um sie zu empfinden. Nur noch ein bisschen, und ich hätte angefangen, sie zu überreden, in Kyjiw zu bleiben und nicht nach Charkiw zu fahren. Und wieder schien mir, dass in Kyjiw jedem ein Leben in Sicherheit garantiert ist. Schließlich lebten meine Familie, meine Freunde und Verwandten während des gesamten Krieges dort. Ich selbst bin seit Kriegsbeginn für Wochen oder auch Monate nach Kyjiw zurückgekommen, in der Erwartung, hier leben und arbeiten zu können.
Für einige Kyjiwer, die da die gesamte Kriegszeit verbracht haben ohne wegzugehen, mögen schon kleinste Bedenken über die Sicherheit der Stadt wie eine Farce klingen. Sie begleiten ihre Familie und Freunde «zum Null», an die vorderste Frontlinie, die entlang von Feldern, Wäldern, verlassenen Dörfern verläuft. Selbst unter den Bedingungen anhaltender Angriffe scheint mir meine Heimatstadt, ein bekannter Raum, der sicherste Zufluchtsort zu sein. Bei mir zu Hause kann ich mich auf die Erinnerung von Sicherheit stützen, wenn es keine reale Sicherheit mehr gibt. Nicht auf eine vorübergehende, zerbrechliche, nur für Minuten anhaltende Sicherheit, die eine Atempause während des Schlagabtauschs bietet, sondern auf die echte, die irgendwo außerhalb der Idee des Krieges ist, dort, wo der Krieg als etwas Fremdes, Entferntes erscheint, das lediglich in Büchern, Erzählungen oder Nachrichten existiert. Für Kyjiw liegt diese Zeit in der Vergangenheit oder in einem phantastischen Paralleluniversum, in dem der Krieg nie begonnen hat.
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