Der letzte Traum. Zwölf ErzählungenPedro Almodóvar übers. v. Angelica Ammar
S. Fischer März 202424 € 223 S.

Den letzten Traum im Titel dieses Bands mit Erzählungen träumt keine erfundene Figur und auch nicht Pedro Almodóvar selbst, sondern seine Mutter kurz vor ihrem Tod. Es ist ein Traum, von dem er nicht mehr berichten kann als dies: Es habe darin offenbar einen Sturm gegeben, obwohl durchs Fenster des Sterbezimmers der Mutter die Sonne fiel. Was hat es mit diesem Traumsturm auf sich? Weht er vom Himmel her, in den sie leichten Fußes einzutreten hofft, weshalb sie ohne Strümpfe und ohne Schuhe beerdigt werden will? Die Mutter stirbt, während fast überall auf der Welt Almodóvars Film Alles über meine Mutter (1999) in die Kinos kommt. Almodóvar ist froh, ihn seiner Mutter gewidmet zu haben. Er war sich nie sicher, ob sie seine Filme eigentlich mochte.

Was der Sturm bedeutet, bleibt in dieser kurzen Erinnerung an seinen ersten Tag «als Waise» offen. Der Text erschien in leicht anderer Form bereits 2011 in dem reich illustrierten Wackerstein Das Pedro Almodóvar Archiv im Taschen Verlag, dort träumte die Mutter von einem Gewitter, was an den unterschiedlichen Übersetzungen liegen mag. Hier wie dort läuft Almodóvar jedenfalls durch die Straßen Madrids und denkt darüber nach, wie entscheidend der Einfluss der Mutter für seine kreative Entwicklung war. Denn es war die Mutter, die ihm den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion beibrachte und erklärte, dass die Wirklichkeit «durch die Fiktion ergänzt werden muss, um das Leben leichter zu machen».

Das wusste sie aus Erfahrung. Denn in dem Dorf in der Mancha, in dem Almodóvar aufwuchs, war sie als eine der wenigen, die lesen konnte, dafür verantwortlich, den Nachbarn ihre Briefe vorzulesen. Dabei hielt sie sich nicht immer an das, was dort tatsächlich geschrieben stand. Sie schmückte es vielmehr aus, ergänzte es um Nettigkeiten, die streng genommen gelogen, aber doch nicht ganz falsch waren. Hatte der Enkel etwa nicht gezeigt, wie sehr er die Großmutter verehrte? Vermutlich hatte er nur vergessen, es auch aufzuschreiben. Die Mutter improvisierte beim Vorlesen, das war für ihn, den Sohn, nach dem ersten Schock und den anschließenden Gesprächen eine wichtige Lektion auf dem Weg, selbst ein Erzähler zu werden. Frauen lügen oft. Überzeugend auch. So ist das in Almodóvars Filmen fast immer, und immer haben sie gute Gründe, die meistens damit zu tun haben, das Leben leichter zu machen, sich und jenen, für die sie sorgen.

Eine Welt aus Himmelblau und Lippenrot und Dottergelb

Bei der Lektüre der Sterbeszene, in der auch Almodóvars Bruder auftritt, seine Schwestern erwähnt werden, eine Krankenschwester ins Zimmer kommt und eine entspannte, keineswegs dramatische Stimmung herrscht, steigen in der Erinnerung verschiedene Gesichter auf. Von einigen Schauspielerinnen und einem Schauspieler. Der Schauspieler ist Toni Cantó, der in Alles über meine Mutter Vater wird und Frau, also Mutter. Die Schauspielerinnen sind Julieta Serrano, die in Leid und Herrlichkeit (so der deutsche Verleihtitel, im Buch heißt der Film Schmerz und Ruhm in wörtlicher Übersetzung des Originaltitels Dolor y gloria, 2019) die alte Mutter gespielt hat, Penélope Cruz, die diese Mutter (und viele andere) als junge Frau verkörperte, und zahlreiche weitere Mütter in anderen Almodóvar-Filmen.

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