Zwei Sätze werden oft zitiert, um das Leben in Russland zu erklären.

Der erste lautet: «In zehn Jahren ändert sich in Russland alles, in zweihundert Jahren nichts.» Meist wird er Pjotr Stolypin zugeschrieben, der ein paar Jahre vor dem Niedergang des Russischen Zarenreichs Vorsitzender des Ministerrats und für drakonische Reformen und Staatsterror bekannt war. Im Russischen gibt es sogar den Ausdruck «Stolypin-Krawatte» für den Strick um den Hals eines Erhängten. 1911 wurde Stolypin von Anarchisten erschossen. Der zweite lautet: «In Russland muss man lange leben.» Er geht auf Viktor Schklowski zurück, den Berufsrevolutionär und Schrift­ steller, der zwischen den Fronten des Bürgerkriegs die einflussreiche Literaturtheorie des «Formalismus» entwickelte. Bis heute sind sich die Forscher uneins, wie sehr Schklowskis Idee der Verfremdung auf Brechts Verfremdungseffekt einwirkte.

Das Stolypin-Zitat ist klar pessimistisch, und diesen Pessimismus teilen heute viele Russ:innen. In ihm schwingt ein Fatalismus mit, die bittere Gewissheit, dass alle Mühen vergebens und Änderungen zum Besseren nicht möglich sind, dass der Ort, an dem Russland liegt, verflucht ist (sei es wegen des rauen Klimas, der geografischen Weite oder der russischen «Mentalität»), dass allein Flucht, Auswanderung, ein Flugticket oder eine Schiffspassage in glücklichere und schönere Gefilde die Rettung bringen.

In Schklowskis Zitat hingegen steckt ein paradoxer Optimismus. Ja, Russland ist zu groß und zu schwerfällig, und der «Maulwurf der Geschichte» wühlt sich zehnmal langsamer durch die tiefgefrorene russische Erde als durch die französische oder deutsche, weshalb Veränderungen nur aus großem zeitlichen Abstand erkennbar sind. Lasst euch also Zeit mit dem Sterben, lebt sieben, acht, neun Jahrzehnte in Russland, und ihr werdet schon eine Besserung erkennen. Auch dieser vage Optimismus ist verbreitet. Für Millionen Russ:innen, denen die gegenwärtige Situation schwer zusetzt und die nicht einverstanden sind mit der inneren und äußeren Politik, ist Auswandern keine Option. Sie sind überzeugt, dass ihre Mühen und Geduld eines Tages ein besseres Russland hervorbringen werden.

Stolypin gegen Schklowski, eine merkwürdige Gegenüberstellung, könnte man meinen. Sie zeigt uns wieder einmal, dass sich die Menschen in Russland, wenn sie über ihre Machthaber verzweifeln und nach Trost, Halt oder Hoffnung suchen, den Literaten zuwenden.

Und 2024 gibt es mehr als genug Gründe, um nach Halt und Trost zu suchen.

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Offiziellen Regierungsangaben zufolge führt Russland seit 2022 eine «Spezialoperation» in der Ukraine durch, die dazu dient, die Bewohner des Donbass zu schützen. Halboffiziellen Ergänzungen zufolge hat sich der Konflikt mit der Ukraine längst in einen mit der NATO entwickelt, und sein Ausgang soll über die Existenz oder Nicht-Existenz Russlands entscheiden.

Unter 140 Millionen Russinnen und Russen findet man so ziemlich jede Haltung zu diesem Staatsdiskurs: vertrauensvolle Akzeptanz und echte Begeisterung, bitterere Skepsis und brennende Scham, zynische Ironie und krampfhafte Unentschiedenheit. In einem sind sich fast alle einig: Die Regierung offen zu kritisieren ist heute gefährlich. Man hat die Wahl, die «Spezialoperation» zu unterstützten oder zu schweigen. Die meisten Menschen schweigen (was besonders aufschlussreich ist, wenn man den Spruch «jeder versteht alles» kennt, der seit Februar 2022 in aller Munde ist). In dieser unheimlichen Stille, die das Land erfüllt, in diesem allgegenwärtigen Schweigen, hört man kein Heulen und Zähneknirschen – man hört das Rascheln von Buchseiten.

Russland liest.

Ist das verwunderlich?