Ich erinnere mich, wie ich mich erinnerte, ums Erinnern rang. Es war immer Mitte Mai, die Sonne schlug schon in den Morgenstunden auf Haifa nieder. Die Herzl-Grundschule lag am Eingang des Viertels, auf dem Bergrücken, an der Mündung eines grünen Tals. Die hohe Mauer, die den Schulhof umgab, und die Zypressen darüber warfen einen schmalen Streifen Schatten. Wir, die Schulkinder, standen auf dem ungeschützten Teil des Hofes in der Sonne, in Reihen vor der niedrigen Tribüne, gekleidet in Blau und Weiß, konzentriert, von Heiligkeit durchdrungen.

Die Zeremonie zum Gedenktag auf dem Berg Karmel war in den frühen 1980er-Jahren der Höhepunkt einer liturgischen Zeit. Es handelt sich nicht um eine jüdische Liturgie, sondern um eine israelische, eine nationale Liturgie. Ihre Religion ist nicht die des Heiligen, gepriesen sei Er, sondern die des Staates. Der jüdische Gedenktag ist Rosch ha-Schana, der Neujahrstag, ein Tag des Gerichts. Der einzige Gedenktag, den ich in meiner Kindheit kannte, war nicht der Neujahrstag, auch nicht der Holocaust-Gedenktag, den wir Schoah-Tag nannten. In der israelischen Liturgie ist der Gedenktag, der immer eine Woche nach dem Schoah-Tag begangen wird, Mitte Mai, der Gedenktag für die gefallenen Soldaten der israelischen Kriege.

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Der zentrale Akt in der nationalen Passionsgeschichte ist die Kommunion mit den gefallenen Soldaten, ein Ritual des Todes, das zum abendlichen Akt der Wiedergeburt, der Feier des Unabhängigkeitstages, führt. An diesem Tag bringt die israelische Religion ihre Kinder in die Nähe des Krieges, in die Nähe des Kampfs. Es ist ein liminaler, zweideutiger Moment. Kampf bedeutet Auseinandersetzung mit dem Feind. Es ist der Moment, in dem der Feind in unser Bewusstsein, in unser Gedächtnis, in unsere Stadt eindringt. Die Erinnerung an den Krieg ist ein Riss zum Frieden.

Uns an der Herzl-Schule zeigte der Gedenktag eine Reihe von Feinden auf. Meine Großeltern kämpften gegen die britischen Besatzer, ein Unabhängigkeitskrieg. Meine Eltern kämpften gegen die arabischen Staaten: Ägypter, Syrer, Jordanier, Libanesen. Diejenigen, die an diesen Gedenktagen nicht vorkamen, ja die nicht einmal als Feinde gedacht wurden, waren die Palästinenser, ein Wort, das wir nicht kannten. Der Krieg, an den wir uns erinnerten, war weit weg von uns, weit weg von Haifa.

Ich erinnere mich, wie ich mich erinnerte. Der Höhepunkt der Zeremonie war die Sirene. Sie ertönt immer noch um 11 Uhr im ganzen Land. Zwei lange Minuten standen wir schweigend da, die Arme angelegt, unsere Blicke gesenkt, schwitzend in der Sonne. Ich erinnere mich, wie ich versuchte, mich zu erinnern, mich bemühte, den Schmerz zu spüren und mich darauf zu konzentrieren, traurig zu sein. Mein jugendlicher Geist war erinnerungsleer, also ersetzte ich die Erinnerung durch Fantasie, malte mir Schlachtfelder und Kriegsszenen in den Kopf, erschuf Soldaten und tötete sie und trauerte dann um sie.

In diesen Momenten trennte ich mich von Haifa. Der Krieg, an den ich mich immer wieder erinnerte, hatte keine Verbindung zur Welt um mich herum, zur Schule, zu den Zypressen, zum Berg Karmel. Jedes Jahr säuberte ich Haifa von Feinden, von jeder Spur des Konflikts. Der Gedenktag war ein Ritual des Vergessens, das das Schlachtfeld, auf dem ich stand, ausblendete, die Ruinen auslöschte, auf denen meine Stadt erbaut war, die Palästinenser eliminierte. An diesen Maimorgen in den frühen 1980er-Jahren wurde ich Israeli.

Erinnerung des Vergessens

Carl Schmitt behauptete, dass die politische Existenz auf einem extremen Konflikt beruhe. Die Grundlage des Staates sei der Krieg. Der Krieg spalte die Wirklichkeit so tief, dass er unser Bewusstsein vom Krieg selbst zerreiße. Es gebe keine Außenperspektive auf den Konflikt, von der aus er in seiner Gesamtheit, von allen Seiten erfasst werden könnte. Das Wesen des Konflikts sei das Fehlen einer universalen Perspektive. Deshalb, schlussfolgert Schmitt, könne das Wissen über den politischen Konflikt nur bei den beteiligten Parteien vorhanden sein. Nur sie, jede aus ihrer eigenen Perspektive, können sich gegenseitig als Feinde identifizieren.

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Albert Memmi beschrieb den Konflikt in der französischen Kolonie in Nordafrika existentialistisch. In seinem Buch Der Kolonisator und der Kolonisierte zeigt er, wie beide Seiten in Bezug auf die koloniale Situation, die sie gegeneinanderstellt, unterschiedliche Positionen einnehmen. Er betonte, dass die von ihm skizzierten Muster auf persönlichen Erfahrungen beruhen. «[F]ür jede Zeile, für jedes Wort [könnte ich] zahlreiche und völlig konkrete Tatsachen beibringen». Memmi glaubte, dass seine Minderheitsposition als Jude in Tunesien, der weder Franzose noch Moslem war, ihn mit beiden Seiten, der kolonisierten und der kolonisierenden, vertraut mache. Fand er in sich selbst die versöhnende Perspektive der kolonialen Kluft?

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