Es ist ein sonniger Mai-Nachmittag in Hamburg, und auf der Sternschanze ist was los. Rund 50 vermummte Aktivisten haben eine riesige Palästinafahne vom Balkon der Roten Flora gelassen, dem zu Folklore gewordenen Zentrum linksradikaler Politik in Hamburg. Sie wollen darauf hinweisen, dass die ersten Besetzer der Flora 1989 noch die Keffiyeh trugen, das «Palituch», bevor der Ort sich nach der Jahrtausendwende zu einer Hochburg der «Antideutschen» entwickelte, sich also von der klassischen linken Imperialismuskritik ab- und einer prozionistischen Haltung im Nahostkonflikt zuwandte.
Ein Transparent der Aktion ironisiert eine zionistische Landnahmeparole – «Häuser ohne Linke für Linke ohne Häuser» –, ein anderes mokiert sich über den deutsch-weißen Charakter der Szene um die Flora: «Good Night, White Flora». Unter dem Beifall einiger Passanten harren die Aktivisten für wenige Minuten aus. Für eine Reihe von Instagram-Selfies ist das genug.
Im Herbst 2023 prangten die Buchstaben «Free the World from Hamas» am Dach der Roten Flora. In dieser Lesart des Nahostkonflikts ist die Hamas weit mehr als die Organisation, die am 7. Oktober gemeinsam mit anderen Gruppierungen das blutigste Massaker in der Geschichte des Staates Israel verübte. Dass die Hamas auch eine islamistisch-sozialkonservative Bewegungspartei war oder ist, deren Aufstieg den gebrochenen Versprechen des Oslo-Prozesses in den 90ern, neoliberalen Umstrukturierungen in den palästinensischen Autonomiegebieten seit der Jahrtausendwende und dem Scheitern der palästinensischen Linken mitzuverdanken ist, spielt hierbei keine Rolle. «Hamas» ist die Chiffre für einen irrationalen Zustand der Welt und insbesondere der westlichen Gesellschaften, in denen der israelbezogene Antisemitismus grassiert – man schaue nur auf die Campusproteste in den USA und teilweise auch in Deutschland. So sehen Antideutsche die Welt. Oder etwa nicht?
Eine einfache Formel für das, was die Antideutschen sind oder einmal waren, könnte lauten: links, antinational und pro Israel. Einige Widersprüche liegen auf der Hand. Wie antinational eine linke Israelsolidarität heute sein kann, wenn praktisch die gesamte politische Klasse der Bundesrepublik die Sicherheit Israels zur Staatsräson erklärt hat, wenn auch die politische Mitte aus Angst vor «importiertem Antisemitismus» ein «Abschieben im großen Stil» verwirklicht sehen will (Olaf Scholz) und wenn sich selbst die rechtsextreme AfD mit ihrer Verbundenheit zu Israel schmückt, ist die Frage. Wie links sie sein kann, wenn der linke Zionismus in Israel marginal geworden ist, die dortigen militärischen Eliten sich zunehmend aus dem nationalreligiösen Spektrum rekrutieren und die ultrarechte Regierung beste Beziehungen zu faschisierenden Staatslenkern wie Orbán und Milei unterhält, ist ebenfalls nicht klar. Müssten die überwiegend weißen deutschen Linken, wenn sie beim Thema Israel die Staatsräson wiedergeben, nicht eher «Ultradeutsche» genannt werden?
Links, antinational und pro Israel
Das fragile Selbstverständnis als links, antinational und pro Israel offenbarte sich in einem Interview der traditionell antiimperialistischen Jungen Welt mit der Chefredakteurin des Magazins Konkret Friederike Gremliza vom 1. Februar. Anders als viele andere Linke hat die Konkret ihre antideutsche Haltung stets aus dem ursprünglichen Impuls hergeleitet, gegen Deutschland zu sein, und weniger aus einer Identifikation mit Israel. Der antideutsche Affekt überlagert alle anderen geopolitischen Dimensionen. In den 1990ern resultierte daraus ein soft spot für Slobodan Milošević, dessen genozidaler serbischer Nationalismus als Bollwerk gegen ein wiedervereinigt-deutsches Machtstreben galt. Und auch die heutige Ukrainepolitik gilt der Konkret als Resultat eines deutschen Drangs nach Osten.
Auf die Frage, ob israelsolidarische Positionen inzwischen «nicht in einer regelrechten Volksgemeinschaft von liberaler Antifa über Ampel bis AfD» aufgehe, erwidert Gremliza, die bürgerliche Solidarität mit Israel sei «längst perdu» und eine deutsche Volksgemeinschaft bestehe zwar, sei aber gewiss nicht pro-Israel, weil «ja nur noch 25 Prozent das militärische Vorgehen Israels gegen die Hamas im Gazastreifen für gerechtfertigt halten». Was vielen wie ein schlicht menschliches Unbehagen an der Bilderflut zerbombter Körper aus Gaza vorkommen dürfte, ist für Gremliza offenbar ein Ausweis unverbesserlicher Deutschtümelei oder schlimmer noch, des alteingesessenen deutschen Antisemitismus. Im selben Interview klagt Gremliza über sinkende Abozahlen: Zu viele Leser hätten sich von linken Positionen abgewandt und kündigten. Ob das auch mit ihrer eigenen Definition von «links» zu tun haben könnte, erfahren wir nicht.
Andere Exponenten der Formel links, antinational und pro Israel sind in ihren aktuellen Unternehmungen erfolgreicher, wenn auch leiser in konkreten Fragen des Konflikts. Nach den Europawahlen Anfang Juni zog die Autorin Sibylle Berg neben dem Vorsitzenden Martin Sonneborn für die Satirepartei «Die Partei» ins Europaparlament ein. Sonneborn erweckt seit einigen Jahren den Anschein, ein tatsächlich linkes Projekt zu führen, indem er die menschenfeindliche Migrationspolitik der EU oder die Kommissionsführung Ursula von der Leyens kritisiert; Berg dürfte dem breiten Publikum durch ihre langjährige Kolumne bei Spiegel Online bekannt sein.