b_books Jan. 2024 23 440 S.
«Geschichte schmerzt, aber nicht nur das.» – «Nationen regen die Fantasie an.» – «Ich hätte nicht gedacht, dass es so kommen würde, ist die Grabinschrift von Intimität.» – Erste Sätze von Lauren Berlant, von Essays, Blogposts oder ganzen Büchern, sind gut darin, die Leser:in unvorbereitet zu treffen. Sie spielen mit Melodien, die an Ratgeberliteratur erinnern. Und gleichzeitig sind sie mindestens auf den ersten Blick rätselhaft, zu abstrakt. Auch auf den dritten. Es sind Sätze, die trösten, indem sie aus dem Konzept bringen, aus dem Konzept bringen, indem sie trösten – und es dabei nicht belassen. In diesem Stil hat Lauren Berlant, eine:r der bedeutendsten Kulturtheoretiker:innen der letzten dreißig Jahre, bis zum frühen Tod im Jahr 2021 viele Monografien und Aufsätze eröffnet, um dann die lockere Erde zwischen Leben und Begriffen zu durchwühlen. Vielleicht, so hat es Berlant, großer Fan schiefer Vergleiche, selbst einmal formuliert, mit den Methoden eines Border Collies, der mit ungebrochener Neugier immer neue Gegenstände, die ihm vor die Schnauze geraten, durch die Welt stupst. Was dabei immer wieder herauskam, war eine so ausufernde wie theoretisch minutiöse Untersuchung jener Grenzbereiche, in denen die gemischten Gefühle Einzelner in das übergehen, was Berlant «historische Gegenwart» nannte. «History is what hurts but not only.» Oder, in der jetzt erschienenen Übersetzung von Jen Theodor: «Geschichte schmerzt, aber nicht nur das.»
Erste Sätze wie dieser finden sich in Berlants einflussreichstem Buch, im englischen Original 2011 unter dem Titel Cruel Optimism erschienen. Die Publikation der Übersetzung – Grausamer Optimismus – in der neuen Reihe re_fuse beim Verlag b_books bietet jetzt die Möglichkeit, diesem Projekt eine:r im deutschsprachigen Raum nicht genügend beachteten Kritiker:in neu oder zum ersten Mal zu begegnen (und das zu einem in Relation zu Aufwand und Nischigkeit bemerkenswert erschwinglichen Preis von 23 Euro). Grausamer Optimismus ist ein Versuch, die 1990er- und 2000er-Jahre als «historische Gegenwart» auszuloten: Wem haben sie wie wehgetan? Wie nicht nur das? Mit der Verzögerung, die gesellschaftliche Affekte auszeichnet, so Berlant, entwickle sich in dieser Zeit ein Sensorium für den Neoliberalismus, der seit Ende der 1970er-Jahre vermeintliche Sicherheiten zerbröseln lasse. Das Buch arbeitet sich in diesem Sinn durch die grundlegenden Widersprüche, in denen sich Menschen im globalen Norden in dieser Ära wiederfinden: Wie gehen sie einerseits damit um, dass sich zentrale Nachkriegsversprechen im Westen (Aufstiegschancen, romantische Zweierbeziehungen, Trickle-Down-Effekte) bis in die höheren Schichten der Mitte hinein auflösen? Und warum bleibt ihnen trotzdem kaum etwas anderes übrig, als an diesen Verheißungen eines besseren Lebens festzuhalten?
Grausamer Optimismus, schreibt Berlant, handele davon, was mit «Fantasien des Lebens geschieht, wenn das Gewöhnliche zu einer Art Müllhalde für überfordernde und immer anstehende Krisen der Lebensbewältigung und -erwartung wird. Deren schieres Ausmaß gefährdet das, was es einmal bedeutete, ‹ein Leben zu haben›, auf eine Weise, die Angepasstheit als Errungenschaft erscheinen lässt.» Diese Analyse einer gerade vergangenen historischen Gegenwart und diejenige, die heute wütet, trennen dreizehn Jahre: Zwischen dem, was schon jetzt eigenartig passé scheint und dem, was noch dringlicher wirkt, klafft ein uncanny valley. Einerseits wirkt der Mythos vom Ende der Geschichte, an dem sich Grausamer Optimismus spürbar noch abarbeitet, angesichts des brutalen Fortschreitens jener Geschichte so albern und anachronistisch wie lange nicht. Deutlich zu erkennen andererseits ist die Müllhalde der Krisenhaftigkeit, von der Berlant spricht, auch wenn das, was manche Polykrise nennen, längst viel deutlichere geopolitische und globale Dimensionen angenommen hat. Die Müllhalde brennt, und Berlants Begriffe können helfen, in die Flammen zu schauen, ohne sie für die Apokalypse zu halten oder sie als Strohfeuer kleinzureden.
Was tun, wenn Souveränität unerreichbar bleibt?
Grausamer Optimismus ist das gezielt unhandliche Konzept, mit dem sich Berlant diesen Krisen annähert. Die ersten Sätze der Einleitung steigen so nüchtern wie nonchalant mit einer Definition ein: «Eine Beziehung des grausamen Optimismus liegt vor, wenn etwas, das man begehrt, in Wirklichkeit ein Hindernis für das eigene Wohlergehen ist. Dabei kann es sich um Essen oder eine Art von Liebe handeln; um eine Fantasie des guten Lebens oder ein politisches Projekt. (…) Optimistische Beziehungen dieser Art sind nicht an sich grausam. Sie werden es nur dann, wenn das Objekt der Bindung aktiv das Ziel untergräbt, um dessen willen man sich ihm ursprünglich zugewendet hatte.»
In der US-amerikanischen Literaturwissenschaft und angrenzenden Disziplinen sind solche und genau diese Sätze besonders halbtot zitiert. Das kann leicht vergessen machen, wie es der idiosynkratischen Stilist:in Berlant immer wieder gelingt, einem begrifflichen Programm Leben, Konkretion und analytische Schärfe einzuhauchen. In Grausamer Optimismus tut Berlant dies in sieben Kapiteln, die, wie die Einleitung selbst augenzwinkernd einräumt, für Essays zu kurz, für kurze Bücher zu lang sind. An die Seite konzeptueller Überlegungen gesellen sich mäandernde Close Readings: von Filmen und Literatur, in denen Protagonist:innen stecken bleiben, in historische Sackgassen geraten und oft nicht einmal den Spielraum haben, zu fragen, wie es weitergehen soll. Ein unverhofft gewonnenes Geldvermögen bringt zwei marginalisierten Jungs kein besseres Leben; ein Snack verspricht die Möglichkeit, das, was an der Welt too much ist, im eigenen Rhythmus zu verdauen; zwei Freundinnen ziehen sich ins Unpersönliche zurück und fallen zusammen erschöpft ins Bett. Es sind Szenen, in denen selbst das vermeintlich Allernormalste – ein Snickers, ein Hook-up, eine kleine Pause – zum Objekt des Begehrens werden kann. Szenen, in denen Protagonist:innen ein Gespür dafür entwickeln, was zu tun ist, wenn Selbstbestimmung unerreichbar weit weg erscheint.