Report für die Europäische Kommission Sept. 2024 400 S.
Jacques Delors kam aus dem katholischen Arbeitermilieu. Sein Großvater war ein Kleinbauer mit fünf Hektar und sieben Kindern; sein Vater zog nach Paris, war Botenjunge und später Inkassobevollmächtigter bei der Banque de France. Delors selbst, Jahrgang 1925, wuchs in Ménilmontant auf, einem der historischen Arbeiterviertel der Stadt, welches bei der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 bis zum bitteren Ende kämpfte. Er war Mitglied der christlichen Arbeiterjugend (Jeunesse ouvrière chrétienne), gläubig katholisch, und der einzige Junge aus seiner Grundschule, der anschließend aufs Gymnasium ging.
Mit seinem aufstrebenden, arbeiterkatholischen Hintergrund stand Delors in der Mitte der westeuropäischen Nachkriegsgesellschaft. Er war anschlussfähig für beide ihrer tragenden Säulen: für die Gewerkschaftsbewegung, in der er lebenslang aktiv war, und für das christdemokratische Milieu, mit dem ihn sein aufrechter Glaube und sein kirchlich-soziales Engagement verband. Besser als die laute Margaret Thatcher, der linke François Mitterrand oder der behäbige Helmut Kohl war er geeignet, diese Nachkriegsgesellschaft aufzurütteln, als sie an ihre Grenzen stieß.
Darin sah er seine zentrale Aufgabe, als er 1985 zum Präsidenten der Europäischen Kommission ernannt wurde. «Die europäische Industriegesellschaft war ein sehr leistungsfähiges Modell. Sie ist es heute (…) in geringerem Maße. Sie kämpft (…) ums Überleben. Reformen sind notwendig», so Delors in seiner Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament am 14. Januar 1985.
Die Verteilung des Verlustkuchens
Was war geschehen? Die drei Jahrzehnte 1945–75 hatten Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten in die Hochmoderne katapultiert. Autos, Kühlschränke und Waschmaschinen, Fernseher und Fernreisen wurden Teil des Alltags. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs um fünf, sechs, sieben Prozent pro Jahr. Breit verteilter Wohlstand und dauerhafte Vollbeschäftigung verdrängten die Sorgen der zwanziger und dreißiger Jahre. Die Erinnerungen an Massenarbeitslosigkeit, Straßenschlachten und politischen Extremismus verblassten.
Nach dreißig Jahren Wirtschaftswunder war die Erwartung verankert, dass es auch zukünftig so weitergehen würde. Ein dichtes Gewebe aus Lebensentwürfen, Tarifverträgen, Gewinnprojektionen, Langfristkrediten, Renten-, Sozial- und Steuersystemen hatte sich herausgebildet. In seiner Gänze beruhte es auf der Annahme, dass auch die Zukunft grob fünf Prozent Wachstum bringen würde.
Mit den Ölkrisen von 1973 und 1979 und dem Ende des Wirtschaftswunders bröckelte die materielle Basis, auf der dieses Gewebe fußte. Das Wachstum wurde volatiler, flachte schließlich dauerhaft ab.
Zunächst unternahmen viele Regierungen den Versuch, das Wachstum durch Konjunkturprogramme wiederzubeleben. Nixon und Burns in den USA, Heath und Wilson in Großbritannien, Giscard d’Estaing und (als Premierminister) Chirac in Frankreich oder Schiller und Brandt in der Bundesrepublik – der Zeitgeist war lagerübergreifend keynesianisch.
Dieser Versuch scheiterte. Die fünf Prozent Wachstum kamen nicht wieder. Doch die Erwartungen waren geblieben. Versprechen, die bei fünf Prozent noch haltbar gewesen wären, mussten bei drei Prozent früher oder später gebrochen werden. Das Gewebe aus Renten-, Kredit-, Lohn- und Profiterwartungen geriet unter Druck. Einzelne Fäden begannen zu reißen, Lebensentwürfe wurden enttäuscht. Mitten in der Überflussgesellschaft stand plötzlich ein Verlustkuchen. Wer sollte ihn essen?
Eurosklerose
In Frankreich versuchte Präsident Mitterrand, diesen Verlustkuchen mittels Steuern und Kapitalkontrollen Investoren in den Mund zu legen. Auch dieser Versuch scheiterte. Die Frage, wie Investitionen ohne (oder gegen) private Investoren organisiert werden könnten, konnte nicht zufriedenstellend gelöst werden.
In Großbritannien und den USA knüppelten Reagan, Thatcher und Paul Volcker die Gewerkschaften nieder, bis eine geschwächte Arbeiterschaft den Widerstand aufgab. Eine Pandemie aus Rost und Stillstand schwappte durch Glasgow und Detroit, Liverpool und Pittsburgh. Produktivitäts- und Lohnwachstum rissen auseinander, neue Gewinne lockten alte Investoren, aus Industrie- wurden Dienstleistungsgesellschaften.
In Kontinentaleuropa, mit seinen starken kommunistischen Parteien, insbesondere in Frankreich und Italien, und mit der Sondersituation des geteilten Deutschlands, war ein ähnlich konfrontatives Vorgehen undenkbar. Zu groß das Risiko, dass alte Wunden aufplatzten; zu frisch die Erinnerungen an die Jahre zwischen den Weltkriegen.