Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichtsHorst Bienek
Hanser Okt. 202458 € 1711 S.

Man hätte gewarnt sein können, denn die Tagebuch-Großeditionen jüngeren Datums hinterließen ein eher flaues Gefühl. Carl Schmitts Notate eines besessenen Aufzeichners etwa bieten Hunderte Seiten privatistisches Geröll, inklusive Aufstellungen über «Extasen mit der Hand» (Onanie), geleerte Weinflaschen und verzehrte Wurstbrote, aber kaum jemals Einsichten in die Entstehung seiner berühmten Essays oder politischen Überzeugungen; Fritz J. Raddatz’ Diaristik zeigt, für mich bestürzend, dass er mit eigentlichen Geistesgrößen gar keinen Umgang hatte, Grass und Hochhuth, Augstein und Walter Jens sind die Koordinaten seines Relevanzsystems – und nach der Lektüre letzter Aufzeichnungen des schaurigen Michael Rutschky attestierte ihm Sieglinde Geisel bei Deutschlandfunk Kultur eine gekränkte Eitelkeit, die sie niemandem wünsche.

Nun hat man im Hanser-Verlag beschlossen, die Tagebücher des langjährigen Hausautors Horst Bienek zu veröffentlichen. Dazu bedarf es vorab einiger Angaben zur Person, denn läsen heutige «Studis» der Germanistik noch Literaturgeschichten, um sich ein wenig Basiswissen draufzuschaffen (sie tun es nicht), wüssten sie immerhin: Horst Bienek, Jahrgang 1930, ein gebürtiger Oberschlesier, kurze Zeit Brechtschüler in Ostberlin, vom Spätstalinismus der noch jungen DDR anlasslos zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und 1952 ins Arbeitslager Workuta verschleppt, einer der Höllen auf Erden. 1955, zur selben Zeit, als Adenauer die letzten deutschen Kriegsgefangenen auslösen konnte, wurde Bienek amnestiert, ging in die Bundesrepublik und agierte nach einer Bestallung beim Hessischen Rundfunk bald als Cheflektor des 1961 gegründeten Deutschen Taschenbuch Verlags (dtv), war also nicht ohne Einfluss.

Schlesier gelten als heikel, weil unbelehrbar und sentimental, Ältere erinnern noch den wenigstens einmal pro Jahr lautstark aufbrandenden Revisionismus der Vertriebenenverbände, der, sehr zum Unmut des jeweiligen Bundeskanzlers, die Oder-Neiße-Grenze in Frage stellte; ich selbst verbinde mit der Region nur das wunderbar-komplexe barocke Trauerspiel, Quitt als Fontanes seltsamsten Roman, dann Gerhart Hauptmann als vielleicht solidesten deutschen Dramatiker und natürlich köstliche Lebkuchenrezepte. Bienek, aus naheliegenden Gründen strammer Antikommunist, aber mit anarchistischen Tendenzen, hatte mit Revisionisten nichts zu tun, wurde bald eine Figur des literarischen Lebens, kannte als geflissentlicher Netzwerker Gott und die Welt, leitete in den Achtzigern die literarische Klasse der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, hatte ein großes Herz für verfolgte Dissidenten und war stets zur Stelle, wenn die großen Tageszeitungen quasi über Nacht Würdigungen frisch gebackener Nobelpreisträger, Nachrufe auf berühmte Schriftsteller u. ä. benötigten. Nach einigen schmalen Bänden Prosa und Lyrik Ende der fünfziger Jahre folgen die verdienstvollen, weil damals neuartigen Werkstattgespräche mit Schriftstellern (1962), durch die Bienek eine feste Größe des Betriebs wurde, 1968 der Achtungserfolg Die Zelle, ein Stück Bewusstseinsliteratur, das die Monate seiner Untersuchungshaft in Potsdam verarbeitet, dann 1970 mit Bakunin, eine Invention etwas Experimentell-Collagenhaftes, wie es damals modisch war. Michael Krüger von Hanser, der über die Jahre unbeirrbar zu Bienek hielt, war an der Formfindung schon dieser beiden Texte maßgeblich beteiligt.

Einem breiteren Lesepublikum bekannt aber wurde Bienek mit seiner Gleiwitzer Tetralogie (1975–82) im Zuge des spätsiebziger Booms der sogenannten «Bewältigungsliteratur» (auch wenn Autorinnen wie Christine Brückner oder Ilse von Bredow die eigentlichen Bestseller schrieben), indem er nun doch versuchte, die oberschlesische Lebenswelt der Kriegsjahre auferstehen zu lassen, zugleich ein scharfer Richtungswechsel hin zum konventionell-«saftigen» Realismus (obwohl das seine Fans in der Germanistik nicht wahrhaben wollen). Beides musste natürlich dazu führen, dass er immer wieder an Grass’ Danziger Trilogie gemessen wurde, die ähnlich versucht, in epischer Breite soziokulturelle Verflechtungen eines deutsch-polnischen Grenzgebiets und den Absturz in den «Zivilisationsbruch» zu fassen, allerdings auch fantastisch-groteske Stilmittel nutzt. Hier das Neben- und Miteinander von Deutschen und Kaschuben, bei Bienek die «Wasserpolen». Seither aber scheint er der Germanistik auch suspekt oder schlicht unergiebig, die Forschung rinnt spärlich, Spitzenphilologie ist dünn gestreut.1

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«I like to go to fuck, to fuck, to fuck» (7. Januar 1979)

Es ist zu vermuten, dass hinter der Publikation der Tagebücher, auf die Krüger lange hoffte,1 der Wunsch steht, dies zu ändern. Zunächst fällt auf, die Notate sind über die Jahrzehnte höchst ungleichmäßig verteilt, weniges aus den frühen 1950ern, dann die «Zwangspause» durch Inhaftierung, Neueinsatz mit einem Rom-Aufenthalt 1960, dann wieder eine Lücke von 1968 bis 1978, da Bienek diese Aufzeichnungen vernichtete, vollständig abgedeckt sind nur die 1980er, jedoch in einer Stärke von beinahe 1400 Seiten, weil Bienek über weite Strecken fast jeden Tag Buch führt; den Anstoß dafür gibt im Oktober 1978 das Vorbild Thomas Mann.

Buchführung ist wörtlich zu nehmen, wenigstens ein Drittel dieser Seiten füllt die Dokumentation von Bieneks Sexualität. Meist hat er einen losen, aber konstanten Partner, trotzdem ist der Druck so übermäßig groß, dass er sich wenigstens jeden zweiten Tag in die Büsche schlägt. Bienek war offenbar fast immer der Empfangende, obwohl er auch mal einen Bundeswehrsoldaten durchkloppt und die Session auf Tonband aufnimmt, seinen Anus nennt er «Möse» oder «Fotze», man erfährt von Dildos, Gleitcremes, immer wieder ein prächtiger «Negerschwanz»; Kubaner-, Jamaikaner-, Tunesier-, Südafrikanerschwänze, Saunen, Schwulenkinos, «Fick-Partys» mit drei Italienern, einschlägige Parks, ganz New York schwillt an zu einem einzigen Phallus. Aber: «In dem Augenblick, wo ich merke, der hat einen kleinen Schwanz (was freilich nicht so oft vorkommt), interessiert mich der schwärzeste Neger nicht mehr. Ich bin obsessed … it’s true!» Bienek benimmt sich wie im Gemischtwarenladen und muss mit Aberhunderten Männern verkehrt haben, «im Engl. Garten zu strolchen, Körper zu berühren, Schwänze in den Mund zu nehmen, am Schluß in den Arsch, und möglichst viele, und das Sperma zu riechen, zu fühlen, das da meinen Arsch überschwemmte». Nur gefistet möchte er nicht werden, und bezahlen schon gar nicht, dann verflüchtigt sich die härteste Erektion geschwinde. Während der Tschernobyl-Katastrophe 1986 wird in München «ein Tamile» herumgereicht, «reiner Ficker», also für die Konversation danach nicht zu gebrauchen, also bloß fort mit ihm. Die dann doch unumgängliche Bezahlung der Strichjungen «in Manila und Bangkok» hingegen redet er sich als «eine Art private Entwicklungshilfe» zurecht. Gastsemester an der Tulane University in New Orleans 1985, wirklich schöne Schwarze seien selten, aber der «Pierre ist groß, sieht gut aus, ist intelligent und er spricht vor allem ein gut-prononciertes Englisch», mit dem kann man sogar ein bisschen plaudern. Angesichts der AIDS-Gefahr wird Bienek nur langsam vorsichtiger, sodass die Infektion allein eine Frage der Zeit sein kann, am 20. März 1987 erhält er das positive Ergebnis des Tests, um den er sich lange herumdrückt.

Natürlich weiß ich um die einstige Stigmatisierung der Schwulen, doch nach der Nobilitierung dieser sexuellen Präferenz vom Verbrechen über die Krankheit zum Lifestyle hat Bieneks Getriebenheit von der eigenen Geilheit über mehr als 1000 Seiten doch etwas Penetrantes, zumal wenn einen das Kopulationsgebaren dieser Jungs so wenig interessiert wie die Selbstfindungsverrenkungen des dekonstruktiven Feminismus. Seine Unfähigkeit, den schier unstillbaren Trieb zu sublimieren, registriert Bienek; wäre er dazu in der Lage, könnte er vielleicht ein großer Schriftsteller werden, doch siehe, «jeder Tag ist ein neuer Kampf gegen den Oblomow in mir». Ein episodischer Erzählversuch vom Frühsommer 1983 in der dritten Person Singular über die nächtlichen Jagden, um sich zu objektivieren, versandet bald, denn er wiederholt nur, was das Tagebuch ohnehin festhält. Man möchte zwischen diesen Seiten des Immergleichen mehrfach ausrufen, wenn du dich so schwer mit dem Schreiben tust, warum machst du dann nicht etwas anderes, Konditor etwa oder Kneipenwirt? Bereits am Virus erkrankt, bereitet Bienek sein Ausprobieren in der Bildenden Kunst dann auch deutlich mehr Freude.

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