Der spätsommerliche Nachmittagshimmel über dem Kibbutz, am Fuß des Bergs Karmel auf der nordwestlichen Seite der Jesreelebene gelegen, füllte sich plötzlich mit Kampfflugzeugen und Helikoptern. Es war Dienstag, der 17. September. Langsam fiel der Abend auf diese kleine ländliche Gemeinde, deren Pfade sich, wie jede Nacht, mit streunenden Katzen und Stachelschweinen zu füllen begannen, die nach Knollen und Wurzeln gruben. Die Schakale begannen zu heulen und die Hunde des Kibbutz antworteten ihnen wie immer. Der laute Chor erklang in der Nähe, hemmungslos.

Das laute Knallen der Jets ist an sich nicht ungewöhnlich, da sich in der Nähe des Kibbutz ein Militärflughafen befindet. Doch am Abend des 346. Tags nach den Angriffen vom 7. Oktober waren die Nachrichtensendungen mit einer Geheimdienstoperation im Libanon und in Teilen Syriens befasst. Tausende von Beeper, die Hisbollahmitgliedern gehörten, waren gleichzeitig explodiert. Neun Menschen starben, 2.800 wurden verletzt. Es schien der Startschuss für eine lange erwartete und befürchtete Kampagne Israels, und die bereits zerrüttete Aufmerksamkeit der Menschen wandte sich von Gaza im Süden ab und richtete sich auf den Norden.

Hassan Nasrallah, der Kopf der Hisbollah, nannte die Operation eine «Kriegserklärung» und spielte damit der Regierung in Jerusalem und vor allem ihrem Chef in die Hände, der sich aus verschiedenen Gründen eine Eskalation im Norden zu wünschen schien – manchmal auch gegen die ausdrückliche Empfehlung von Teilen des Generalstabs und vor allem ohne jeden Plan, den Krieg zu beenden. Die Situation schien sich in zwei Chronologien aufzuspalten, sich einerseits ständig weiter zuzuspitzen und außer Kontrolle zu geraten, ohne dass sich andererseits grundsätzlich etwas veränderte: Die Geiseln in Gaza waren weiterhin lebendig begraben, es gab keinen Waffenstillstand, kaum einer der Verantwortlichen hatte für die beispiellose Katastrophe des 7. Oktober die Verantwortung übernommen, es gab keinen Abschluss. Der Journalist Barak Ravid schrieb auf X, Quellen in der US-Regierung hätten ihm gesagt, dass sie Israels Politik von «Deeskalation durch Eskalation» zwar nachvollziehen könnten, diese aber die Gefahr eines umfassenden Kriegs mit sich bringe.

Am folgenden Tag, Mittwoch, dem 18. September, setzte die israelische Armee nach, nun explodierten tausende Funkgeräte der Hisbollah. Am Abend trafen sich im Foyer des Bialik-Hauses, dem einstigen Zuhause des hebräischen Nationaldichters Chaim Nachman Bialik im Zentrum von Tel Aviv, einige dutzend Menschen. Sie waren der Einladung gefolgt, einem Vortrag mit dem Titel Sich eine Welt ohne Israel vorstellen beizuwohnen. Das Bialik-Haus beeindruckt durch seine eklektische orientalistische Jugendstilarchitektur, die sich zu Beginn der 1920er Jahre im britischen Mandatsgebiet Palästina als «hebräisch» imaginierte.

Die besten Texte in Ihrem Postfach
Unser kostenloser Newsletter

Newsletter-Anmeldung

Am Fuß einer feuerroten Wendeltreppe hatte der Philosoph Irad Kimhi, Professor an der University of Chicago, Platz genommen. Kimhi widmete seine Überlegungen der Begegnung und der auf Deutsch geführten Korrespondenz zwischen dem in Czernowitz in der Bukowina geborenen Paul Celan und dem aus Würzburg stammenden Jehuda Amichai, die sich während Celans Israelbesuch im Jahr 1969 getroffen hatten. Der improvisierte Hörsaal verströmte die Atmosphäre einer Freimaurerloge, eines intellektuellen Salons und einer Ad-hoc- Kommandozentrale. Kimhis Stimme war nicht leicht zu verstehen, von draußen wurde sie immer wieder übertönt durch das Kampfgebell streitender Hunde auf dem Bialikplatz, was zur Fragilität der Situation und den anspruchsvollen Überlegungen des Philosophen passte.

Kimhi beginnt mit dem, was Herta Müller ausgelassen hat, dem zweiten Satz von Celans Appell an Amichai, der sich in einem Brief vom 7.11.1969 findet. Die Korrespondenz zwischen Celan und Amichai spielt eine zentrale Rolle in einem Offenen Brief, den Herta Müller angesichts der finsteren Welle von Antisemitismus, die nach dem 7. Oktober die Welt überflutet hat, im Juni in der FAZ veröffentlicht hatte.