Das ist er also, der Hunger: Ein neuer Krieg, ein Krieg im Krieg. Der Grausamkeit und Gewalt des Krieges der Bomben, der uns mit seinem Feuer niedermäht und von Ort zu Ort scheucht, steht er in nichts nach. Wie viele andere Leute auch, hat er uns in den eigenen vier Wänden eingeholt. Von nun an aßen wir nur noch eine einzige Mahlzeit pro Tag. Immer mittags. Hülsenfrüchte mit Reis und was sich an Gemüse auf dem kleinen Stadtmarkt noch finden ließ, oder, falls es ausnahmsweise einmal welchen gab, Tiefkühlfisch; zum Frühstück gab es Kekse, die wir unter den Kindern und Erwachsenen im Haushalt verteilten und zum Abendessen nur Schwarztee.



Kurz nachdem das Mehl vom Markt verschwunden war, tauchte es erneut auf: in Form von Säcken, wie sie die UNRWA verteilt. Erst im Nachhinein erfuhren wir, dass ihr plötzliches Auftauchen die Folge einer Plünderung des UNRWA-Lebensmittellagers gewesen war: Scharen Hungriger hatten eines Nachts das Lager gestürmt und die Türen eingetreten, einige waren über die Mauern geklettert. Innerhalb weniger Minuten war jeder einzelne Mehlsack aus dem Lager geräumt worden, aber auch sämtliche Sardinenbüchsen, alles Maiskeimöl, das ganze Milchpulver, alle Linsen und Kichererbsen. Ja, sogar die Schreibtische, Holzregale und Aktenordner des UNRWA-Archivs waren weg. Letztlich gelang es mir, einen der geplünderten Mehlsäcke zu einem Vierfachen des Standardpreises zu ergattern.

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Ich kam also durch die Wohnungstür mit dem Sack in den Armen, als trüge ich einen Schatz. Ola und ihre Schwestern jubelten laut. Inmitten dieser Wüste aus Trauer und Angst, die sich Tag für Tag im Gleichschritt mit dem Krieg ausweitete, erfüllte uns nun eine düstere Heiterkeit. Ein kurzes Gefühl von Erleichterung und Sicherheit. Jetzt würden wir unser eigenes Brot backen können, statt lange Stunden unter der prallen Sonne Schlange zu stehen, mit der unsicheren Hoffnung, bestenfalls ein paar Fladen mit nach Hause zu nehmen.

Doch zwischen uns und dem Backen stand noch ein Hindernis. Denn wer backen will, braucht einen Ofen. Und in unserer Wohnung gab es nur eine einzige Gasflasche, deren Inhalt kaum noch für unsere täglichen Mahlzeiten reichte. Es musste einen anderen Weg geben: die Lehmöfen. Seit Urzeiten werden sie von der ländlichen Bevölkerung Gazas genutzt. Heute übersäen sie die Straßeninseln und Grünstreifen zwischen den Wohnblöcken von Hamad City, dem Viertel von Khan Younis, wo wir wohnten. Die Dorffrauen, hingebungsvoll und gemeinschaftsorientiert wie sie waren, buken jeder Familie ihr Brot, wenn sie nur ihr eigenes Mehl mitbrachte – und als Brennmaterial ausreichend Altpapier oder Kartons.

Nur hatten wir nichts davon. Das einzige Papier, das wir zu Hause hatten, war das, aus dem die Bücher meiner Bibliothek bestanden. Ola blickte verlegen zu mir herüber: «Meinst du nicht, wir könnten vielleicht ein oder zwei deiner Bücher…? Sobald der Krieg vorbei ist, kannst du sie dir ja nachkaufen.» Sie sagte das so zart und vorsichtig, wie sie nur konnte, und fügte hinzu: «Dass die Kinder was zu Essen haben, ist gerade wichtiger, als dass sie vorgelesen bekommen.» Das tat weh. Was für eine absolut niederschmetternde Situation, dass ich über so etwas auch nur nachdenken musste. In all den Jahren, während derer ich mir diese Bücher nach und nach angeschafft hatte, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass ich einmal zwischen ihnen und Brot für meine Kinder würde wählen müssen. Das schien mir so grausam, dass es mir die Sprache verschlug, und die Frage, die sich daraus ergab, ließ mich erstarren: Wie hatte es überhaupt so weit kommen können, und auch noch in so kurzer Zeit?

Es hatte viele Jahre gedauert, bis meine kleine, bescheidene Büchersammlung zu ihrer jetzigen Größe anwachsen konnte. Mehr als zweihundert Titel, philosophische, soziologische und theologische, aber auch Romane und Lyriksammlungen waren darunter, auf deren ersten Seiten mir Freunde bei ihren Buchpremieren handgeschriebene Widmungen hinterlassen hatten. Die Bücher fühlten sich an, als wären sie Teil eines langen Gedächtnisses, das ich mit diesen Freunden teilte – denjenigen, die noch in Gaza lebten, denen, die ins Ausland gegangen waren und denen, die bei ihrem Versuch, in Gaza zu leben, ums Leben gekommen waren. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr fühlte ich, dass meine Büchersammlung lebendig war. Dass sie einen Körper besaß, aus Fleisch, Blut und Erinnerung, der sich aus vielen Leben und zahllosen Spaziergängen durch Gaza zusammensetzte, mit seinen Cafés, seinen Gassen und seiner Küste, an Sommerabenden und in Winternächten.

Deshalb sagte ich nein. Nein, wir werden keine einzige Seite aus meinen Büchern verbrennen. Es muss eine andere Lösung geben. Und Ola versuchte gar nicht erst, mich zu überreden. Sie sagte nur: «Schon gut. Hauptsache, wir treiben von irgendwoher Papier auf und bringen es der Dame unten beim Lehmofen. Damit sie uns die Fladen ausbackt, bevor der Teig schlecht wird.»

Ich lief die Treppe hinunter und raus auf die Straße. Vor irgendeinem Müllcontainer oder Lebensmittelladen würde sich schon ein Papierhaufen oder ein Karton finden, dachte ich mir. Aber ich irrte mich. In der gesamten Gegend schien kein einziges Fetzchen Papier mehr herumzuliegen. Hatten die Menschen alles aufgebraucht? Während ich die Straßen nach Papier absuchte, begegnete ich vielen Leuten, Erwachsenen und Kindern, die dasselbe taten wie ich. Sie hetzten umher, den Blick auf den Boden geheftet, auf der Suche nach dem kleinsten Stück Karton für die Dorffrauen, damit sie ihnen die Fladen ausbacken würden. Die allgemeine Verzweiflung hatte sich bald auch auf mich übertragen. Wie ich so nach rechts und dann wieder nach links rannte, jedem Anschein eines Papierfetzens hinterher, gewann ich den Eindruck, mich in einer komplett papier- und kartonfreien Stadt zu befinden.

Irgendwann wäre ich beinahe wieder durch meine Haustür getreten, um meinen hungrigen Kindern zuliebe zwei meiner Bücher den Flammen zu opfern, hätte nicht der Besitzer des Lebensmittelladens im Erdgeschoss interveniert. Er musste mir wohl beim Suchen zugesehen und sich, als er mich so verzweifelt sah, schließlich dazu entschlossen haben, mir zu helfen.

«Du suchst wohl Kartons, was?», fragte er. Ich fragte zurück: «Hast du denn welche?»
«Hier», sagte er, während er mir drei große Bögen reichte: «Für dich ist mir nichts zu kostbar.» Ich dankte ihm mehrmals. Dann nahm ich die Treppe zu unserer Wohnung, stolz und heilfroh. Der Mann hatte mich vor einem Meer aus Reue gerettet, in dem ich wohl bald ertrunken wäre, hätte ich wirklich angefangen, meine Bücher zu verbrennen.

Denn auch wenn es nur eine vergleichsweise kleine und bescheidene Sammlung ist – für mich stecken in meinen Büchern die Seelen derer, die sie geschrieben haben. Und das ist weder ein poetisches Bild noch eine Metapher. Das ist eine Wahrheit, die ich längst in mir fühlte.

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auct.:
Mohamed Al-Zaqzouq, 1990 in Khan Yunis geboren, ist Autor und Herausgeber. Er studierte Arabistik und Literatur an der Al-Aqsa-Universität in Gaza… [Mehr lesen]
transl.:
Sandra Hetzl schreibt, forscht, übersetzt aus dem Arabischen und kuratiert Literaturveranstaltungen. Sie ist Gründerin des Agenturkollektivs… [Mehr lesen]