Zwischen Quellenpulver und Konstruktivismus
Die kulturwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften hat bedeutende Einsichten in die Verfassung kultureller Phänomene und ihrer Dynamiken gebracht. Theoretisch befeuert wurde sie durch die Revolution der Denkart, die in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Paris als Diskursgeschichte, Strukturalismus, Dekonstruktion oder Rhizomatik stattgefunden hatte. Sie hat Erkenntnis- und Aufklärungsgewinne freigesetzt und eine neue Freiheit im Denken und Handeln eröffnet. Die daraus hervorgegangenen Denkfiguren werden jedoch seit einiger Zeit in einer Weise scheinbar fortgesetzt, die in Wahrheit eine nachgerade gegenrevolutionäre Reaktion von metaphysisch formatiertem, geschichtslosem und identitätslogischem Denken ist. Vom Gärungsprozess des relationalen Geistes aus Paris ist bei den Diadochen der durch ihn instruierten westlichen Welt zuletzt ein zäher Trester zurückgeblieben.
Gemeinsam ist diesen Entwicklungen eine elementare Geschichtsvergessenheit. Die operativen Begriffe der Kulturwissenschaft haben sich in ideologische Konstrukte verwandelt, die den Aufklärungsgewinn der Kategorien Geschlecht, Rasse, Klasse, Kolonie zu Gunsten von Sprachhülsen verspielen. Die kulturwissenschaftliche Ideologie ersetzt die politische Analyse durch den moralisierenden Kampf um die Verwendung affektiv aufgeladener Worte. Aufgabe einer aufgeklärten Kulturwissenschaft ist es, einen methodischen Zugriff auf das reale Objekt der Untersuchung zu erhalten. Das ist nur möglich, wenn sie die historische Verfassung ihre Gegenstände berücksichtigt und untersucht, wie ein Phänomen zu dem geworden ist, was es ist.
Die quellenkritische Erforschung der Faktizität vergangenen Geschehens ist die notwendige Voraussetzung für jedes historische Forschen; sie ist allerdings auch in Fragen historischer und kulturwissenschaftlicher Erkenntnis verheerend, denn sie bewirkt durch die systematische Erfassung alles nur irgend greifbaren Faktischen eine Pulverisierung des Wissens. So führt die kritische Wissenschaft der Ereignisse zur Auflösung der Geschichte als Deutung der Ereignisse. Das hat die Kritik des Historismus im 20. Jahrhundert erkannt und auf verschiedene Weise methodisch und theoretisch durchdacht. Die Konstruktivismen der vergangenen Jahrzehnte sind der Auflösung der Wirklichkeit in zahllose Wirklichkeitspartikel dadurch begegnet, dass sie alle Faktizität für kulturelle Bildung erklärt haben. Es gibt keine Fakten, nur Deutungen. Das ist, pointiert, die Situation der Gegenwart. Wissenschaftliches Quellenpulver, das Erbe des Historismus, und kulturelle Konstruktion, die Hinterlassenschaft seiner Kritik, sind die Extreme, die für die historische Erkenntnisabsicht nicht neutralisiert werden dürfen, sondern kritisch in ein Verhältnis gesetzt werden müssen. Betrachtungen kultureller Überlieferungsphänomene im Horizont ihrer historischen Faktizität sind für solche Erkenntnis bedeutsam.
Ein Brauch, ein Bild und deren Wahrheit
Ein kultureller Gegenstand, der weitab der ausgetretenen Pfade der Kulturwissenschaft zu liegen scheint, kann in einer exemplarischen Analyse Einsichten in seine historische Verfassung und im Weiteren der Kultur allgemein geben und die Frage profilieren, was ein kultureller Gegenstand eigentlich ist. Ein solcher ist die vor allem im katholischen Christentum populäre Verehrung, die liturgische Feier und theologische Deutung der heiligen Maria.
Die Idee Mariä ist zu Beginn des christlichen Zeitalters entstanden. Die historische Frau, die in den Evangelien als Mutter Jesu Christi vorgestellt wird, ist im Laufe von zweitausend Jahren zu einer immer komplexeren religiös-theologischen Figur umgestaltet worden. Der kulturwissenschaftliche Ertrag einer Untersuchung der Marienfrömmigkeit und Mariologie liegt in der Einsicht in die historische Wirklichkeit der Figur Mariä. Die historische Wahrheit wird durch ihre Überlieferung bestätigt. Die Geschichtlichkeit des marianischen Komplexes zeigt sich im kleineren Maßstab an der Ausbildung des Kults um die mexikanische Figur der Nuestra Señora de Guadalupe.
Der vielleicht bedeutendste Intellektuelle Mexikos, Octavio Paz (1914–1998), charakterisierte den Kult um die Guadalupe in «Quetzalcóatl und Tonantzin», einem Kommentar zu der grundlegenden Studie Quetzalcóatl et Guadalupe. La formation de la conscience nationale au Mexique (1531–1813) von Jacques Lafaye, als «komplizierteste und zugleich eigenartigste Schöpfung Neu-Spaniens», die «nicht individueller, sondern kollektiver Natur» und auch nicht künstlerischen, sondern religiösen Ursprungs ist. Er ist «privat und öffentlich, regional und national zugleich». Das Fest der Guadalupe am 12. Dezember ist «das Fest schlechthin, das zentrale Datum im Gemütskalender des mexikanischen Volkes».
Der legendarischen Überlieferung gemäß erschien einem auf den Namen Juan Diego getauften Nahua zwischen dem 9. und 12. Dezember 1531 die Muttergottes mehrere Male auf dem Hügel von Tepeyac nördlich der Stadt Mexiko. Sie sprach den Wunsch aus, an dem Ort solle der Bischof von Mexiko ein Heiligtum zu ihren Ehren errichten. Die Berichte von den Vorgängen folgen dem Muster von Erscheinungslegenden. Die Gottesmutter musste Juan Diego vier Mal erscheinen, weil der Bischof zunächst skeptisch gegenüber einer Epiphanie war. Nachdem sie durch verschiedene Zeichen – blühende Rosen im Dezember, die Heilung des kranken Onkels von Juan Diego und, vor den Augen des Bischofs, die wunderbare Entstehung des Bilds auf der Tilma, dem Umhang Juan Diegos – die Wahrheit der Erscheinung bestätigt hatte, ließ der Bischof eine Kapelle auf dem Tepeyac bauen. Das Blumenwunder und die Krankenheilung sind nur durch die Überlieferung bekannt, das Bild aber ist geblieben. Es ist zusammen mit dem ganzen Guadalupe-Komplex Teil des kollektiven Imaginären und der Ideenwelt Mexikos.
Der Name für die mexikanische Maria erklärt sich dadurch, dass viele der Konquistadoren und ihre Soldaten aus der spanischen Extremadura kamen und eine Marienverehrung aus dem spanischen Ort Guadalupe in die eroberten Gebiete mitbrachten. Hernán Cortés (1485–1547), dessen Truppen 1521 die Hauptstadt des aztekischen Reichs Tenochtitlán, das heutige Mexiko-Stadt, erobert hatten und der danach bis 1530 Generalgouverneur von Neuspanien, dem heutigen Mittelamerika, war, kam aus Medellín in der Extremadura. Bereits Kolumbus (1451–1506) soll zum spanischen Guadalupe-Heiligtum gepilgert sein; eine der im Westen entdeckten Inseln nannte er Guadalupe, das heutig französische Département Guadeloupe.
Das zunächst lokale Ereignis der Erscheinung vor Juan Diego wurde, indem der Bischof als ranghoher Vertreter der Kirche es beglaubigte, und im Weiteren mit seiner Entfaltung in der kultischen Verehrung durch die Gläubigen und die Integration in die Kirche, zu einer religiösen, sozialen und kulturellen Wirklichkeit, die für die Geschichte Mexikos und in Maßen auch Lateinamerikas sowie, durch die mexikanischen und lateinamerikanischen Migranten, in den USA von großer Bedeutung ist. Es gibt Zeugnisse, dass die Verehrung der Mutter Gottes bei den Indigenen sehr früh einsetzte und besonders an Orten stattfand, an denen zuvor ein Heiligtum der aztekischen Muttergottheit Tonantzin Cihuacóatl – Unsere Verehrte Mutter Frau Schlange gestanden hatte; sie war durch die Liebe Frau und Mutter von Guadalupe ersetzt worden. In der altmexikanischen Mythologie ist Coatlicue die Mutter von Huitzilopochtli, den sie auf ungewöhnliche Weise durch einen gefiederten Ball empfangen hat. Das ermöglicht die Überschreibung mit der christlichen Maria als Mutter Gottes, die ihren göttlichen Sohn ebenfalls auf ungewöhnliche Weise durch den als gefiederte Taube versinnbildlichten Heiligen Geist empfangen hat. Die Hybridisierung wurde vorbereitet durch die mythologische Denkform der mesoamerikanischen Kulturen.