«On ne peut pas dire si ses yeux sont
entrouverts ou fermés. On dirait qu’elle
se repose. Le soleil est déjà très fort.»

Marguerite Duras, L’homme assis dans le couloir, 1980
Valentine au bord du lac de Serre Ponçon, 2024

«Parfois, la sieste me sauve», ein Satz, der denen, die abends ins Bett gehen, um es am nächsten Morgen zu verlassen, rätselhaft, vielleicht sogar skandalös vorkommen mag; anderen wiederum wahr auf eine Art, die nur Eingeweihte kennen. Gesagt hat ihn die baskische Schriftstellerin Marie Darrieussecq im Radiogespräch über Pas dormir («Nicht schlafen», 2021), den womöglich besten, in jedem Fall aber belesensten Gegenwartstext zu Insomnia, und da gab es in letzter Zeit einige. «Manchmal rettet der Mittagsschlaf», aber wen, wovor und wofür? Bestimmt versteht auch der fleißige Boomer, wenn er vor Sonnenaufgang in Budapestern über Parkettböden klackert, was an so einem Schlaf in der Mitte des Tages erholsam, verlockend und vielleicht sogar ein bisschen gefährlich sein kann, aber darum gleich «Rettung»?

Zoé dort pendant la fête, 2017

Es könnte nur so dahingesagt sein, doch seit ihrem sehr erfolgreichen Debüt im Jahr 1996 – «je suis [soudainement] riche plus que jamais personne dans ma famille», schreibt sie in Pas dormir –, demonstriert Darrieussecq, dass sie ganz genau weiß, wovon sie redet und wie sie es tut. Truismes hieß dieser erste Roman, was in Frank Heiberts Übersetzung zu Schweinerei wird und außerdem Binsenweisheit bedeutet, und genau darum geht es: dass grunzende Menschen sich jeden Moment in grunzende Schweine verwandeln können, Gemeinplätze in Lebewesen, abstrakter Schweinkram in handfesten und Mehrdeutigkeiten niemals in Transparenz.

Seitdem kommt Darrieussecqs Literatur nicht immer so drastisch daher, oft eher leichtsinnig und alltagsverfangen, fast grunzend, wie eine Binse, die sich maximal noch zu einer kleineren Schweinerei auswachsen kann, aber am Ende geht es ihr noch immer ums Existenzielle, und das heißt in der Literatur: um jedes einzelne Wort. Wenn Darrieussecq also von «Rettung» spricht, darf man vermuten, dass sie ans klassische Epos und seine geschundenen Helden ebenso denkt wie an Notfallmedizin und Eschatologie.

Tom dans ses vignes, 2022

«Le monde se divise entre ceux qui peuvent dormir, et ceux qui ne peuvent pas.» Wer nachts wach liegt, hat Zeit zum Denken, mitunter an Definitionen. In Pas dormir gibt es Hunderte solcher Sätze, die mal wie Beschwörungen, mal wie Verurteilungen klingen; dieser hier ist der elementarste und steht darum auch – Darrieussecq being true to her truisms – am Anfang. Die ganze Welt, wie wir sie kennen: manichäisch unterteilt in diejenigen, die nachts gut schlafen, und die, die es nicht tun – mir fällt, auch mitten am Tag, kaum ein Binarismus ein, der schwieriger von der Hand zu weisen wäre als dieser.

Doch Schlaflosigkeit ist nicht einfach die Kehrseite des Schlafs, sie folgt ihrer eigenen Geometrie. Mathematik und Metaphysik geben sich die Hand, und die kleine Kammer derer, «die ohne Schatten wandeln», wird zu einem leeren Raum von der Sorte, die einst Pascal unruhige Nächte bereitete. Ein Raum, der Widersprüche in Polytope verwandelt, sich ins Unendliche weitet und dabei auf einen einzigen Punkt zusammenschrumpft – eine Beschreibung, die mich zurück in den Aufwachraum nach einer OP transportiert, als sich mein ganzer Schmerz knapp über dem Steißbein zusammenbraute und ich mich fühlte wie ein winziger Butt-Plug, zurückgelassen in einer Wüste aus Steinen und Sand.

Ken à Palerme, 2018

Bei Proust, der früh damit aufhörte, schlafen zu gehen, ist die Figur, die ihm den Schlaf nimmt, dann tatsächlich geometrisch: ein heimtückisches, spitzwinkliges Dreieck, dessen Seiten mit Asthma, Anorexie und narrativer Neurose beschriftet sind. Die Atemkrankheit ist das Alibi, das Bett nicht zu verlassen, der Mangel an Aktivität alimentiert die Anorexie, und weil die Fülle der Zeit nur im Erzählen ist, wäre es ohnehin töricht, sie mit Erlebnissen zu vergeuden. Am Schluss, schreibt Darrieussecq, ist Proust zu schwach, um noch einschlafen zu können.

Das Bett derart zum Mittelpunkt der Erde zu machen, wie Proust es tat, kann nicht die Rettung sein. Aber immerhin: «Mein Bett war ein Fest», schreibt Darrieussecq, die irgendwann aufgab und in ein King Size Modell investierte, um dort ihre Bücher zu schreiben und noch mehr zu lesen, während ihre Kinder zur ständigen Audienz kamen, Hausaufgaben machten, Playstation spielten, aßen, vielleicht sogar träumten.

Das Bett als Fest – kein Ort der Rettung, höchstens des Ausharrens und Überwinterns, der aber auch das Fenster weit aufstößt für Depressionen, Schicksal und Alkoholismus. «Rauchen im Bett ist gefährlich», sagt Darrieussecq, «trinken tödlich», und Lady Macbeth mit dem Dolch ihrer Wörter: What’s done cannot be undone. To bed, to bed, to bed.

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Pyjama party avec Neda, Marielle, Martina et Laura, 2001

Der Leichte Schlaf in Rebekka Deubners fortlaufender Serie, von der wir hier eine Auswahl der Auswahl präsentieren, braucht kein Bett. Die hier Fotografierten wissen, wie man die Augen schließt, auch im Offenen, haben die richtigen Instinkte für gute Lagen, auch unter erschwerten Bedingungen, und sehen dabei auch noch, ohne zu posen, gut aus. Sie sind im Reinen mit sich selbst und ihrer Umgebung, sind gerne beim Licht und suchen sich ihre Schatten. Sie nehmen sich den Moment in der Mitte des Tages, als hätten sie wenig Ehrfurcht vor den Göttern der Arbeit, die uns reich und den Planeten unbewohnbar gemacht haben. Ab und zu wird ein Reisebus-Vorhang zum klassischen Faltenwurf, manchmal ein Mensch zur Skulptur, aber nichts wird gezwungen, etwas anderes zu sein, als es selbst.

Valentine après la free party, 2019
Valentine après la free party, 2019

Auch der Kamera, die sie einfängt, gelingt etwas Erstaunliches: Sie hält sich zurück, ohne auf verbissene Weise diskret oder voyeuristisch wirken zu müssen. Es hat etwas bemerkenswert Beiläufiges, wie hier Vertrauen und Nähe, Respekt und Distanz zwischen den Modellen, dem Objektiv und der Betrachterin aufgeteilt werden, und man könnte diese Beiläufigkeit für Eskapismus halten, doch der ist höchstens involontaire, ein souveräner Umgang mit Stippvisiten im Paradies.

Seit ein paar Monaten erst kenne ich ein Wort aus dem brasilianischen Portugiesisch, das all diese Szenen von Menschen in der Horizontale beherbergen kann, ohne sie ihrer Heterogenität zu berauben: das Verb capotar. Es bezeichnet einen unverfügbaren Moment des Zusammenklappens und In-den-Schlaf-Fallens, kopfüber, aus Erschöpfung oder Übermüdung oder großem Kummer, wobei dich niemand davon abhalten kann, vorsätzlich zu kapotieren oder aus einer besonderen Art von Faulheit heraus, preguiça, die man lernen kann wie einen Tanz.

Irma enceinte de Carmen, 2020

Kriegt man eine Whatsapp mit der Aussage Capotei! («ich bin kapotiert») oder schickt sie selbst, heißt das nicht – das pretérito perfeito, das Einmaligkeit gegen Dauer ausspielt, mag dabei helfen –, dass man sich nicht im nächsten Moment schon wieder verabreden kann. Nichts Dramatisches ist passiert, man war einfach nur abgetaucht und trotzdem noch da, ein bisschen wie Giottos Jona in Padua (um 1305), der Hals über Kopf im Walfisch steckt und dort vielleicht noch was anderes sucht als seine Gnade.

Warum kann ich mich so gut mit diesen Bildern identifizieren? Wahrscheinlich nicht nur, weil ich selbst leidenschaftlich gern kapotiere, sondern auch, weil wir – die Fotografin, die Fotografierten und ich – zu einer Generation gehören, die ihren Schlaf nicht mehr so krass verheimlichen muss. Doch was befähigt uns dazu, so schamlos einzunicken? Es dürfte mit einem weniger verkrampften Körpergefühl zu tun haben, mit Freundschaft als höchstem Gut und einem Machtverlust des Privaten, aber auch mit Erbschaft, Phlegmatismus und einem Mangel an moralisch akzeptablen Zukunftsperspektiven.

Valentine dans le Morvan, 2020
Valentine dans le Morvan, 2020

Inzwischen ist es spät geworden hier in Fortaleza: 4:04 Uhr, die Ziffern, die Darrieussecq aus dem Schlaf reißen, Geisterstunde der Autofiktion. Zeit für das Geständnis, dass ich selbst bislang nicht unter den heftigsten Ausprägungen von Schlaflosigkeit leide, aber immerhin nah genug dran bin, um zu fürchten, dass der eben ausgesprochene Satz mir von nun an das Gegenteil beweisen wird. Vielleicht könnte ich mir die Schlaflosigkeit, die ja große Werke bewirken soll, im Moment noch leisten, und die gewonnenen Stunden fürs Lesen und Schreiben ausquetschen. Schließlich bin ich gegenüber Darrieussecq, die auch (und gerade!) unter Insomnia als Psychoanalytikerin arbeitete, zurzeit noch im dreifachen Vorteil, dass ich keine Kinder habe, kein literarisches Werk und keinen an feste Arbeitszeiten gebundenen Beruf (wobei ich zuversichtlich bin, dass sich bei den beiden erstgenannten noch etwas machen lässt). Doch bevor ich wie Marguerite Duras ein Loblied auf die Schlaflosigkeit (Éloge de l’insomnie, 1985) anstimme, retten mich, gerade noch rechtzeitig, Rebekkas Bilder und erzählen mir, dass große Werke auch ohne Selbstzermarterung möglich sein müssen.

Peter et Haroun lisent chez eux, 2020

Ich habe es immer als ihren großen Vorzug empfunden, dass die Fotografie als Medium sich trotz ihres Evidenzcharakters nur schwer für große Gesellschaftsverallgemeinerungen vereinnahmen lässt. Denn müssten wir nicht, wenn es nach einschlägigen Theorien ginge, und allen Selbstoptimierungstools zum Trotz, immer weniger schlafen und immer schlechter? Es ist dieser Verdacht, der Bücher wie Jonathan Crarys 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep motiviert, und es gibt sie ja allem Anschein nach wirklich, die neuen Sorten der Schlaflosigkeit, die Trump-induced oder Post Brexit Insomnia, und dazu eine noch unklassifizierte Unmenge an Leuten, die dank Bolsonaro, Duterte, Modi und Erdoğan aufgehört haben zu schlafen. Eine starke Korrelation zwischen mehr Kapitalismus, mehr Autokratie und mehr Schlaflosigkeit lässt sich vermutlich trotzdem nicht herstellen, und so ist es vielleicht wie fast immer in unserer Zeit: Statt dem Ende des Schlafs gibt es beides im Überfluss – zu viel und zu wenig an Schlaf –, und nicht selten im Leben von ein und derselben Person.

In den Momenten dazwischen bleibt immerhin Platz für zurückhaltende Epiphanien. Auf einer der Fotografien sieht man, wie einer von Rebekkas Protagonisten ein Buch liest: L’homme assis dans le couloir von Marguerite Duras. Genauer gesagt: Er liest daraus einem anderen vor, und vielleicht ja diese minimal abgewandelten Sätze, die Duras über ihn und alle Mitliegenden schrieb: Man kann nicht sagen, ob ihre Augen halb geöffnet oder geschlossen sind. Es sieht aus, als würden sie sich ausruhen. Die Sonne ist schon sehr stark.

Ken entre Marseille et Embrun, 2019
Ken entre Marseille et Embrun, 2019
auct.:
Samir Sellami ist Gründungsredakteur der Berlin Review und lebt derzeit in Fortaleza, Brasilien. Sein Buch Hyperbolic Realism. A Wild Reading of… [Mehr lesen]
Rebekka Deubner ist Fotografin und lebt in Bagnolet. Viele ihrer fotografischen Arbeiten sind Langzeitprojekte. Sie dokumentierte unter anderem die… [Mehr lesen]