Gallimard Okt. 1999 7,60 €
Nehmen wir an, dass Freundschaft vor allem in einem Fließen besteht. Freunde sind dann solche, die ein Gespräch führen, das immer schon begonnen hat und das nie an ein Ende gelangt, ungeachtet dessen, worüber sie sprechen mögen und wie oft das Gespräch unterbrochen werden mag. Selbst wenn das Gespräch sich zu wiederholen scheint, abebbt oder aufgrund ständiger Abschweifungen dahinschwindet, hat es etwas Müheloses. Versteht man Freundschaft in diesem Sinne, ist sie eine Beziehung radikaler Egalität. Freunde bleiben gegenüber der Sprache gleichgültig, dem Medium, das sie trägt oder das ihr Gespräch fließen lässt, zumindest so lange, wie seine tragende Kraft nicht nachlässt und es eine uneingeschränkte Freiheit ermöglicht, die sie woanders nicht finden. Freunde kümmert die Sprache nicht sonderlich.
Dennoch kann das Fließen unterbrochen werden oder sogar gänzlich abbrechen. Sind Unterbrechung und Abbruch seinem unergründlichen Antrieb fremd? Eine Unterbrechung des freundschaftlichen Gesprächs, von der es mehr als nur eine geben mag, hat die französische Schriftstellerin Nathalie Sarraute wohl dazu angeregt, das Theaterstück Pour un oui ou pour un non zu schreiben (Die deutsche Übersetzung Für nichts und wieder nichts von Elmar Tophoven ist in Buchform bislang nicht erhältlich.) In diesem Stück treten Machtspiele an die Stelle des radikalen Egalitarismus. Zwei Freunde streiten miteinander. Plötzlich scheinen sie verschiedene und unvereinbare Positionen einzunehmen, die eines aktiven und die eines kontemplativen Lebens. Jeder kämpft um seine Vormachtstellung gegenüber dem Anderen. Am Ende sagt einer der Freunde: «Ich habe immer gewusst, dass zwischen uns keine Einigung und keine Versöhnung möglich ist. Kein Nachlassen und kein Vergeben… Es ist ein erbarmungsloses Ringen. Ein Kampf auf Leben und Tod. Ja, ums Überleben. Es gibt keine andere Wahl. Entweder Du oder ich.»
Vertrautheit ohne Außen
Im Verlauf dieses Gefechts zeigt sich, dass Sprache für die Freundschaft entscheidend ist. Denn das Gespräch kreist nun um eine Beziehung, deren manipulative Natur in einer besonderen Wortwahl zutage getreten ist. Einer der beiden Freunde hält dem anderen vor, er habe bestimmte vielsagende Pausen beim Sprechen gemacht, bestimmte aufschlussreiche Betonungen gewählt. Wurde diese Freundschaft je von der Sprache und ihrem Fluss getragen? Man könnte aus dem Stück schließen, dass Freundschaft des Selbstbewusstseins oder der Selbstreflexion ermangeln muss. Wenn sie anfängt, sich mit sich selber zu beschäftigen, wenn sie zum Gegenstand des freundschaftlichen Gesprächs wird, wenn sich die Freunde fragen, ob ein Machtverhältnis ihrer Freundschaft zugrunde liegt und sie Lügen straft, ist der Fluss bereits unterbrochen, sind die Freunde bereits auf sich zurückgeworfen worden, ist jeder in sein eigenes Spiel verstrickt. Für Dritte, deren Position einer der Freunde nun einnehmen kann, um den Verdacht des anderen ins Lächerliche zu ziehen, ist nichts unwichtiger als die sprachliche Nuance, der der verdachtschöpfende und verletzte Freund zu viel Aufmerksamkeit geschenkt haben soll. Er hat sie in ein Zeichen von Verrat und Bruch verwandelt.
Die Freundschaft ist weder ein objektiver noch ein intersubjektiver Bereich, ja sie bildet überhaupt keinen Bereich, sondern ist die Entfaltung einer Vertrautheit ohne ein Außen. Eine derartige Vertrautheit lässt keine Triangulationen und Instrumentalisierungen zu. Freundschaft – wir werden darauf zurückkommen – existiert nicht für andere, dritte Parteien. Freunde sind so innig und so unbewusst mit der Sprache verschränkt, dass sie ihnen kaum etwas bedeutet. Sie kann sich aber als unendlich bedeutsam erweisen. Für Freunde, die sich Machtspielen verschreiben, und aufhören, Freunde zu sein, wird sie zur Quelle von Bedeutungen. In der Freundschaft ist der Unterschied zwischen Sprache als Medium und Sprache als Mittel ausschlaggebend. Freunde kommunizieren nicht, sie lassen sich vom Redefluss einfach treiben, schwimmen mit dem Strom, halten sich in einem Medium, das sie trägt und fortträgt, egal, welche wichtigen Dinge sie einander sagen mögen. Wenn sie aber kommunizieren und Sprache als Mittel verwenden, haben sie sich von ihrer Freundschaft bereits verabschiedet. Oder sie sind von ihr – von der Sprache – verlassen worden.