Ich habe keinen persönlichen Bezug zu Deutschland oder dem Holocaust. Ich bin nicht, wie bisweilen angenommen wird, eine Deutsche mit türkischem Hintergrund. Ich bin als Angehörige der privilegierten Mehrheitsgesellschaft in der Türkei aufgewachsen. Die engste persönliche Verbindung, die ich von meiner eigenen Lebensgeschichte zu der Geschichte meines Buches Stellvertreter der Schuld ziehen kann, ist die Demütigung, aus einem Land zu kommen, das bis heute den Völkermord an den Armeniern leugnet, zusammen mit anderen gewalttätigen, unterdrückerischen und assimilatorischen Maßnahmen gegenüber den ethnischen und religiösen Minderheiten der Türkei, darunter Kurden, Aleviten, Griechen, Juden und Roma.

Ich kam zum ersten Mal nach Deutschland, als in der Türkei eine kurze Phase der Demokratisierung anbrach, die mit einem Bewusstsein davon einherging, dass die späten Osmanen und frühen Republikaner schwere Verbrechen begangen hatten. Mein intellektuelles Mündigwerden in den 1990er Jahren überschnitt sich mit dem Aufkommen einer kritischen Masse von Intellektuellen in der Türkei, die glaubten, dass das Eingeständnis dieser historischen Verbrechen wichtig für die Aussichten auf Frieden und Gerechtigkeit nicht nur mit den Armeniern, sondern auch mit den Kurden, Aleviten und anderen unterdrückten Gruppen sei. In diesen Kreisen wurde Deutschland als ein positives Vorbild wahrgenommen. Damals wie heute bewundere ich die Zeit, die Energie und das Engagement, das deutsche Privatpersonen und öffentliche Einrichtungen in die Aufarbeitung der abscheulichen Verbrechen investieren, die die Nazis und ihre Unterstützer im Namen der deutschen Nation begangen haben.

Als ich 2005 zum ersten Mal nach Deutschland kam, starrte ich auf die messingfarbenen Stolpersteine, die in Berlin und anderswo in ganz Europa vor den letzten bekannten Wohnorten der vielen Opfer des Nationalsozialismus in die Bürgersteige eingelassen sind. Ich fragte mich, wie Istanbul, Van, Malatya oder Maraş mit diesen Stolpersteinen aussehen würden, die dort in die Bürgersteige eingelassen wären, um die letztbekannten Wohnorte von Armeniern und Assyrern zu markieren, die während des Völkermords von 1915 gezwungen waren, sich auf einen Todesmarsch durch osmanisches Gebiet zu begeben.

Ich saß neben dem Gedenkbrunnen in der Hauptstraße von Schöneberg, der die Todes- und Vernichtungslager unter dem Motto «Wir werden niemals vergessen» auflistet, und fragte mich, wie es wohl wäre, wenn die Türkei die Zerstörung, den Völkermord und die Aneignung, auf der die Nation aufgebaut ist, zugeben würde. Ich dachte sodann, dass es für die Regierung sicherlich schwieriger werden würde, ihre gegenwärtigen Verbrechen, die im Namen des Nationalismus oder der Stabilität begangen wurden, zu vertuschen. Ich wollte wirklich verstehen und von der deutschen Erfahrung lernen, auf begangenes Unrecht zurückzublicken und entsprechende Lehren daraus zu ziehen.

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Als ich 2006 in Deutschland ankam, war ich eingebürgerte amerikanische Staatsbürgerin und hatte bereits ein Dutzend Jahre in den USA verbracht. Zudem war ich Nutznießende der amerikanischen Investitionen in Deutschland, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs andauern, da ich ein Aufenthaltsstipendium an der American Academy in Berlin erhielt. Die Villa, in der die Akademie untergebracht war, gehörte einst einem deutsch-jüdischen Bankier, der 1933 aus Deutschland geflohen war. Seine Villa wurde von der Deutschen Reichsbank zu einem symbolischen Preis erworben und wurde zur Residenz eines Nazi-Ministers.1 Die Villa liegt direkt gegenüber dem Haus der Wannsee-Konferenz, in dem sich 1942 führende Vertreter der NS-Regierung und der SS trafen, um die sogenannte Endlösung der Judenfrage zu diskutieren und so den Holocaust zu planen. Während ich im malerischen Wannsee lebte, war es nicht möglich, die schreckliche Vergangenheit zu vergessen, die das Land mit monumentaler Kraft prägte, wohin ich auch blickte.