«In revolutionary moments, there is no place for liberals.» Diesen Satz höre ich Ende Oktober 2025 in einem Podcast mit dem Politikwissenschaftler Ivan Krastev. Krastev sagt, nach dem Ende des Kalten Krieges hätten sich die Verfechter der liberalen Demokratie vor allem darauf verlegt, die regulativen, nicht-wählbaren Elemente der politischen Ordnung zu stärken: «neutrale» Institutionen wie die Verfassungsgerichte und Zentralbanken, die Rechtsstaatlichkeit an sich. Es war die große Zeit der rules-based international order, aber diese Zeit ist jetzt vorbei.
Zentral in Krastevs Analyse sind nicht unbedingt Putin, Trump oder Xi Jinping; zentral ist auch nicht der sich selbst auffressende Neoliberalismus oder die Tatsache, dass westliche Staaten oft als erste jene internationale Ordnung missachteten, die sie rhetorisch propagierten, vom ehemaligen Jugoslawien über den Irak bis in die Westbank. Krastevs Hauptargument ist die Pandemie. Sie habe allen vor Augen geführt, dass drastisches, auch irreguläres Regierungshandeln möglich ist, dass auch langsame Demokratien in der Lage sind, Extremes zu tun. Wer sein Leben für eine radikale Senkung des CO2-Ausstoßes eingesetzt hatte, bekam plötzlich: einen weltweiten Stopp des Luftverkehrs, stillstehende Fabriken und den größten Emissionseinbruch seit Beginn der Messungen. Wer sich eine radikale Eindämmung der Migration wünschte, bekam weltweit geschlossene Grenzen und eine Bewegungskontrolle, wie sie selbst in Kriegszeiten nicht umgesetzt wird. Revolutionäre in allen Lagern sahen: Wer will, der kann.
Als ich Anfang September 2025 noch einmal ins Centre Pompidou gehen will, ein letztes Mal vor der mehrjährigen Schließung und Instandsetzung, ist es in Paris noch angenehm warm. Rien ne nous y préparait – tout nous y préparait ist der Titel der Ausstellung, in der Wolfgang Tillmans auf den 6.000 Quadratmetern der leergeräumten Bibliothèque publique d’information sein über vier Jahrzehnte gewachsenes Werk aus Fotografien und Filmen, Zeitschriftenfeatures, Musik und fototechnischen Experimenten präsentiert. Nichts hat uns darauf vorbereitet – alles hat uns darauf vorbereitet, ich liebe diesen Titel. Weil er sich so schön wissentlich-unwissend auf all das Schlechte beziehen lässt, das dann eben doch gekommen ist: der gewonnene Kulturkampf der Rechten, die «postliberale» Gegenrevolution, die Kriege und Genozide, das Ende des liberalen Zeitalters.
Der Titel lässt die eigene Rolle in dieser Entwicklung offen oder spielt jedenfalls mit liberaler Passivität. Auf etwas (nicht) vorbereitet worden zu sein, das impliziert irgendwo auch, dass man selbst gar nichts beigetragen hat, dass man keine eigene Handlungsmacht besaß oder eine solche nicht beanspruchte. Es ist viel darüber geschrieben worden, dass Tillmans der perfekte Chronist des Liberalismus am Ende der Geschichte gewesen sei: Die Beiläufigkeit seiner Motive, die weichen Farben und Winkel, die ungefilterte, dabei doch immer undramatische Intimität der von ihm abgebildeten Menschen, Szenen und Strukturen, all das fing den Zeitgeist der 1990er, 2000er und auch 2010er Jahre frei und unpathetisch ein. Deshalb kennt man seine Bilder so innig, hat sie vielleicht selbst schon verwendet, ohne sich dessen bewusst zu sein. (Ein Porträt von mir vor einem riesigen Tillmans- Print mit Krustentieren zierte viele Jahre mein Social-Media-Profil – Grüße an die Fotografin.)
Am Eingangsportal der Bibliothek sitzen zwei Schülerinnen in Tanktops auf dem Straßenpflaster und zeigen sich etwas auf ihren Handys – Paris ist sich in all den Jahren erstaunlich gleich geblieben. Dass heute angeblich alle mit ihren Smartphones ähnliche Fotos machen könnten wie Tillmans, ist ein frecher Einwand gegen seinen Stil, eigentlich aber die ultimative Anerkennung seiner Meisterschaft. Tillmans hat seine tastende, fragende Snapshot-Ästhetik immer weiterentwickelt, gerade dann, als die Medien- und Technologierevolutionen des 21. Jahrhunderts uns allen die Mittel zu einer fotografischen Selbstdarstellung an die Hand gaben, die er selbst und Künstler:innen wie Corinne Day oder Nan Goldin an den urbanen Subkulturen der 1980er und 90er entwickelt hatten. Unermüdlich füllt sich mein Instagram-Feed mit den lässig-kalkulierten foto dumps meiner Kontakte. Ihr heimliches Vorbild, von dem sie vielleicht gar nichts mehr wissen und das sie natürlich niemals erreichen werden, ist Wolfgang T.
Durch seine Motive, vielleicht aber auch durch seine durch nichts zu verdrießende Freundlichkeit war Tillmans immer auch ein Coming-of-Age- Artist für die Spätgeborenen des 20. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise ist der Ort, an dem er hier ausstellt, für mich persönlich ein Ort des Erwachsenwerdens. Ende der Nullerjahre stand ich fast täglich mit Hunderten in der Schlange vor der Bibliothèque publique d’information – alle nannten sie nur BPI –, um in dieser größten Freihandbibliothek der Welt recherchieren zu können. Ich schrieb hier Studienarbeiten über Baudelaire und Walter Benjamin, habe zugegebenermaßen aber auch viel prokrastiniert, viele SMS in meine damaligen Nokia-Handys getippt, viel geschaut, um gesehen zu werden. Den Laufsteg-Faktor der BPI kennen alle, die in Paris studiert haben. Fotografie ist Objektwahl, Blick und Technik, und das waren auch die drei Elemente der Anbahnung in dieser Bibliothek. Bei der Eröffnung von Rien ne nous y préparait im Juni ’25 sprach Tillmans lange über den offenen, kollaborativen Charakter dieses Ortes, der ihn stolz mache, hier ausstellen zu dürfen. Zur wahrgewordenen Utopie der BPI gehörte immer auch, dass Menschen ohne festen Wohnsitz und ohne eigenes Endgerät hier jeden Tag aufs Neue ein warmes Plätzchen und einen kostenlos nutzbaren Desktop-Computer vorfanden, der es ihnen ermöglichte, an den digitalen Aspekten des liberalen Zeitalters teilzunehmen.
«Es veröden mit den Theatern die Parlamente», las ich damals in Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz von 1935. Was Benjamin wohl meinte, war, dass erst die Bühnenrede im bürgerlichen Theater die Voraussetzung dafür schuf, dass demokratische (liberale?) Politik in Parlamenten stattfinden konnte. Die heutigen politischen Arenen ähneln eher den Kampfkäfigen der Mixed Martial Arts (dass Dana White, Präsident des Ultimate Fighting Championship und zentraler Sidekick in Trumps 2024er-Kampagne, ins Board of Directors von Meta/Facebook/Instagram berufen wurde, war eine der Pointen des amerikanischen vibe shifts nach der Machtübernahme.) Politik ist heute schlimmstenfalls Krieg oder fühlt sich wie einer an, im besseren Fall ähnelt sie einer Sportveranstaltung, bei der beide Lager ihren Kandidaten gewinnen und die andere Seite leiden sehen wollen. Für Liberale ist in diesem Ring kein Platz. Sie sind, so witzelt Ivan Krastev, die Fans des Schiedsrichters.
Tillmans Bilder, die in seiner charakteristischen Collagierung von Kleinformaten und riesigen Fotoprints die Wände füllen, zeigen viele Gesichter, die ich kenne. Die Künstlerin Isa Genzken, matt und von der Sonne geblendet, in einem stechend roten Pullover am Sandstrand. Chloë Sevigny mit E-Gitarre, Chloë Sevigny entwaffnend von der Seite gesehen. Jodie Foster, Frank Ocean, immer wieder Lutz (Lutz Huelle) und Alex (Alexandra Bircken), Wolfgangs Musen und Jugendfreund:innen aus Remscheid, die ich früher im Jahr bei der Eröffnung seiner Ausstellung im dortigen Werkzeugmuseum kennenlernte. Vor einem Bild bleibe ich besonders lange stehen. Es zeigt vier junge weiße Männer mit Shorts, Caps und T-Shirts, wie sie zufrieden und in sich gekehrt im Schatten einer Party-Location abhängen. Pappbecher und Kippen liegen herum, einer sitzt auf einer Bierkiste, eine Flasche «Spreequell» ist zu sehen – Sommerparty 2013. 2013, denke ich, war auch das Jahr, in dem die AfD sich als «Professorenpartei» gegen den Euro gründete.
Ich suche nach den Splittern des damals schon Kommenden. Army Moscow 2008 zeigt junge russische Militärs mit ausgemergelten Gesichtern, die vor Christian-Dior-Schaufenstern paradieren. Empire – US / Mexico 2005 zeigt die Konturen eines Checkpoints, der so auch in Jerusalem oder an der EU-Außengrenze stehen könnte. Die aus schwarzen, glänzend-verspiegelten Rechtecken gebildete Installation Memorial for the Victims of Organised Religions von 2005 hat einen Titel, der alles Nötige schon ausdrückt.
Das Schöne, wiederum sehr Freie an dieser Ausstellung ist, dass sie ihre eigene Melancholie nicht zu ernst nimmt, dass sie es uns nicht zu schwer macht mit sich und der Welt. Ja, wir haben es nicht kommen sehen und wussten es doch. Ja, wir haben es nicht wahrhaben wollen. Vielleicht geht es aber auch gar nicht so sehr um uns (um die jungen Männer der Berliner Sommerparty, bei denen ich natürlich hätte sitzen können). Tillmans schönste Bilder im Centre Pompidou weisen über den engen Rahmen der westlichen Nachwende-Moderne hinaus, zeigen verarmte, aber heitere Marktplätze in Osteuropa, Kartenspieler in Hongkong, Stahlarbeiter in Nordrhein-Westfalen oder die Accessoires einer «Family Planning»-Praxis in einem nicht genannten, jedenfalls fernen Land. Die Geschichte nach dem Ende der Geschichte werden andere schreiben, jetzt ist die Zeit für ihre Revolution.
Die interessanteste und auch komplexeste Zeitform in den indoeuropäischen Sprachen ist das Futur II, auch vollendete Zukunft, futur antérieur oder future perfect genannt. Sie beschreibt eine vorweggenommene Vergangenheit, eine Ahnung, die sich schon erfüllt haben wird. Sie drückt die Abgeschlossenheit von etwas aus, das noch gar nicht angefangen hat, oder auch den Verlust von etwas, das erst noch gewonnen werden muss. Mit diesem Vorgefühl lebten sich diese Jahre, für manche besser, für viele schlechter, als ich es sogleich verstand. Rückblick mit Zuversicht und Zukunft als Perspektive hat Wolfgang Tillmans seinen Beitrag zu diesem Heft genannt. Wir (alle) werden frei gewesen sein, und ihr (alle) werdet es gewusst haben.