RiefenstahlAndreas Veiel
155 Min.  31. 10. 2024

1. Berge

Selten erlischt ein aufsteigender Stern schon vor seinem Fall, und so verliert auch Leni Riefenstahl am Set ihres ersten Films nur beinahe ihr Leben, kurz vor Drehbeginn. «‹Eine Lawine!› schrie ich, so laut ich konnte. Zum Glück war es aber nur ein kleiner Schneerutsch. Bis zum Hals lag ich im Schnee vergraben», schildert sie diese Episode in ihren dreibändigen, 1990 und 1992 vom Ullstein Verlag herausgegebenen Memoiren, denen ein Motto von Albert Einstein vorangestellt ist: «Über mich sind schon massenweise so unverschämte Lügen und freie Erfindungen erschienen, daß ich längst unterm Boden wäre, wenn ich mich darum kümmern sollte. Man muß sich damit trösten, daß die Zeit ein Sieb hat, durch welches die meisten Nichtigkeiten im Meer der Vergessenheit ablaufen», lautet das Zitat des deutschen Physikers, der im selben Jahr ins Exil gezwungen wird, in dem R. ihren ersten Auftrag für einen nationalsozialistischen Propagandafilm annimmt: Der Sieg des Glaubens.

Wenige kennen Leni Riefenstahl heute wirklich. Fast niemand hat ihre Filme gesehen, doch fast alle haben eine Meinung zu ihr. Riefenstahl, der von Andreas Veiel gedrehte und von Sandra Maischberger produzierte Dokumentarfilm, könnte diese Lücke füllen. Das neuerliche Interesse an R., die 2003 im Alter von 101 Jahren verstarb, mag mit der Öffnung ihres Nachlasses zusammenhängen, der seit 2016 von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz verwahrt wird. Doch in Riefenstahl ist wenig zu sehen, womit sich das negative Urteil über ihrem Dasein aufhellen ließe. Ohne falsche Polemik wird man wohl sagen können, dass vom Leben der R. wenig Positives bleibt. Da überrascht es auch nicht, wenn ihr das Schicksal mehr als einmal nach dem Leben trachtete – oder jedenfalls nach dem Talent. Die eingangs erwähnte Lawine war nicht das erste Beispiel. Schon im Alter von fünf Jahren soll sie beinahe zu Tode gekommen sein, als ihr Vater sie in einen See warf. Sie rang um ihr Leben und war schon bewusstlos, bevor die Todesangst einsetzen konnte. Seitdem, schreibt sie in ihren Memoiren, war ihr das Wasser vertraut.

Die faschistische Rhetorik des «Was uns nicht umbringt, macht uns stärker» findet sich in R.s Selbsterzählung überall. Von den vielen Episoden aus ihrem Leben ist mir die unglaublichste die liebste: Mit 97 Jahren überlebte sie im Sudan einen Hubschrauberabsturz, bei dem sie sich einige Rippen brach – da dies wirklich geschah, darf man auch annehmen, dass die anderen Geschichten alle wahr sind. Als verbrieft gilt die Knieverletzung, die R.s Tanzkarriere im Alter von 22 Jahren stoppt. So kommt sie 1924 zum Kino, oder genauer gesagt, zum Bergfilm. Ein typisch deutsches Genre, entstanden aus dem Frust des verlorenen Weltkriegs und erfunden von Arnold Fanck, einem Geologen und begeisterten Kletterer: «In seinem Eifer, das Evangelium stolzer und gefährlicher Gipfelstürmerei zu verbreiten, baute Fanck zunehmend auf Schauspieler und Techniker, die hervorragende Bergsteiger und Skiläufer wurden, wenn sie es nicht waren», schreibt Siegfried Kracauer in seiner Psychologischen Geschichte des deutschen Films.

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Unter Fanck debütiert R. als Schauspielerin und stellt ihr athletisches Können in den Dienst der völkischen Mystik. Während den Dreharbeiten von Der heilige Berg (1926) lernt sie bei extremen Witterungsbedingungen und unter großer körperlicher Kraftanstrengung zu arbeiten, als einzige Frau in einer Crew, die es gewohnt ist, wochenlang an isolierten Drehorten auszuharren. Doch die Selbstbehauptung gegenüber der männlichen Kameraderie ist nur ein Nebenaspekt der Inbrunst, mit der R. sich in diese Herausforderung stürzt. Einer der vielen Gründe, weswegen aus R. nie eine feministische Ikone werden konnte: ihr völliges Desinteresse daran, den Pionierin- und Survivor-Aspekt ihrer Karriere auszuspielen (zu ihrer Lebenserzählung gehören auch der gewalttätige Vater sowie die sexuellen Übergriffe Joseph Goebbels’ und eines frühen Liebhabers). Fanck traktiert R. nicht nur mit Drehanweisungen, die ans Sadistische grenzen, er gibt ihr auch Lektionen im Fach Regie. Von ihm lernt sie, «daß man alles gleich gut fotografieren [muss] (um) das Mittelmaß zu überschreiten, das Wichtigste wäre, von der Routine wegzukommen und alles möglichst mit einem neuen Blick zu sehen».