wrong: TextaktionenRainald Goetz
Suhrkamp Mai 202424 € 367 S.

Der Band wrong ist eine Sammlung von «Textaktionen», die eben zum 70. Geburtstag des deutschen Schriftstellergenies Rainald Goetz erschienen ist, als sechster Band eines Buches mit dem Titel Schlucht. Die erste Textaktion beginnt damit, dass eine Figur namens Elohim «jetzt am schwarz geschwungenen Eisengeländer der Weidendammbrücke im Zentrum Berlins» lehnt. Betonung auf «jetzt».

Elohim heißt die Figur nur, um den Bezug zu einem Roman von Michel Houellebecq herzustellen, den Goetz hier für die Zeitschrift Cicero rezensiert, Ausgabe Oktober 2005. Die Rezension enthält viel schwammiges Theoretisieren, aber sie wird von zwei kurzen Prosapassagen eingerahmt, in denen der Autor sich selbst in diese Rezension hinein- und wieder aus ihr herausschreibt. Sie sind sehr schön. Elohim/Goetz findet sich später auf der Rolltreppe des Kaufhauses Lafayette wieder, durchstreift die Delikatessenabteilung, beobachtet eine Verhaftung, radelt davon.

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Ein paar Sätze im Rezensionsteil erklären, was Goetz an den Themen des Romans von Houellebecq interessiert hat (es geht um Die Möglichkeit einer Insel): «Aus der Körperlichkeit ausgestoßen: der Intellektuelle, der Alte, der kranke, schwächliche, unschöne Mensch.» Das sieht er im Buch, und darin findet er sich offenbar wieder, denn kurz bevor das Rezensenten-Ich in den Konsumtempel abtaucht, gesteht es: «Glücklich ist die Zeit mit Anfang zwanzig. Schwer alles, was später kommt.»

Defektkomplex

Das Buch, edition suhrkamp auf extra feinem Papier und mit kaiserblauem Schutzumschlag, ist voller Skrupel; unter anderem fragt sich der Autor, ob er bei seinen Büchern mit seinen Anforderungen die Herstellung überfordert. Es enthält Dankesreden für Literaturpreise, Vorlesungen und Vorträge, Interviews, Gefälligkeitsrezensionen und Gesprächsprotokolle aus der Zeit von 2005 bis 2024. Schwarzweißfotos zeigen Pflastersteine, Stadt- oder Uferlandschaften oder ein Kleinstkind, das nach einem Philosophie-Erklärbuch greift. An besonders prominenten Stellen zeigen sie den Autor.

Auf der ersten Bild-Doppelseite sehen wir einen vielleicht nicht mehr blutjungen, aber doch jugendlich wirkenden Dichter mit gebleichten Haaren, lesend, eine Zigarette zwischen den Fingern, gelehnt an das Geländer, vor dem er sitzt – irgendwo zwischen jungem Gott und ganzem Mann.

Nicht viel weiter, auf Seite 46, sehen wir einen zweifelnden Mann, der sein viel höheres Alter im Gesicht trägt und schräg an uns vorbei blickt. Als hätte er gerade wiedergelesen, was er selbst im Jahr 1979 für den Merkur über Der Mensch erscheint im Holozän geschrieben hat: «Max Frisch hat mir den Raum der Altersexistenz von innen gezeigt: Resignation, fast nichts von Revolte. Schonungslos wird das Grauen des Alters enthüllt; der erschütternde Reduktionsprozeß bis hin zu jener stillen Geduld im Warten auf den Tod.»

Auf der letzten Doppelseite sieht man den Autor in seiner Schreibstube auf dem Teppich hocken, umgeben von Büchern und Zeitschriften, die er um sich ausgebreitet hat. In seinen Texten umgibt er sich mit Menschen, mit Namen: Ikonen, gute Geister, Totems, Voodoopuppen, seine Posse, seine Gang, seine Feind:innen (die Freunde sind immer Männer). Um dann umso ausführlicher von sich selbst zu berichten, seinen Projekten, seinen Skrupeln, seinen Defekten, seinem – in Großbuchstaben – DEFEKTKOMPLEX.

In der Antrittsvorlesung an der FU Berlin (2012) wünscht sich Goetz, es möge «Aufgabe dieser Poetikdozentur sein, Texte zu verhindern», und fügt hinzu: «Der Dämon in mir ist grausam.» Außerdem: «Das Sprachgefühl ist sehr verletzlich, es gehört der der Rationalität allerfernsten Sphäre des Musikalischen der Sprache an». Er produziert Sprüche, die man auf ein Kissen sticken könnte, die aber so weit durch etwas hindurch gezwungen wurden, das er seine «hysterisch expressive Existentialität» nennt, dass ihr Sinn nebelhaft wird, und vielleicht gerade deshalb schön: «nichts soll abgelebt sein vom je Erlebten, (…) nichts war falsch, alles dumm».

In der Dankesrede zum Schillerpreis (2013) spricht er von einem «maximal irritablen» ICH, und dann, ein wenig furchterregend, von einem «Welteroberungsauftrag der Kunst». Ein Jahr später lobt er den «ausgreifenden Seemannsgang» seines 2002 verstorbenen Verlegers und erklärt: «Man darf keine Pussy sein, muss selbst guter Dinge sein, um Siegfried Unseld richtig zu verstehen.» Es sind der männlichen Kraftworte viele, rund um den Defektkomplex dieses Autors.

In der Dankrede zum Büchnerpreis (2015) muss er eingestehen, dass er als Mensch älter ist, als Büchner je wurde, und als Träger des Preises älter als Peter Handke, der ihn mit 30 Jahren bekam, «auf dem Hochpunkt der Königlichkeit seiner Autorschaft», als er «aus der schönsten Wahrheit seines Jungseins» sprach. Zum Älterwerden rechnet Goetz dann die «Tragödie der Skepsis», die auch das Schreiben vergiftet – «wer nicht mehr jung ist, darf so herrlich nicht sprechen».

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Immer noch Pop

Im Jahr 1999 hat Goetz in der Beschreibung seines Internet-Sofortveröffentlichungsprojekts Abfall für alle die absolute Unmittelbarkeit zum einzigen Ort des Lebendigen erklärt: Erzählt werde in Instantanberichterstattung von der Zeit, «als man noch nicht tot war und nicht daran dachte, wie es weiter geht». Bei allem, was über die unmittelbare Erfahrung hinausgeht – Reflexion, Zweifel, Erkenntnis oder Vergessen – wäre man dann also tot. Das entspricht einer sehr kindlichen Vorstellung von mit sittlicher Reife assoziierten Tugenden.

Sofort denkt man an das Gedicht, das Handke, sein älterer Bruder im Geiste, für den Film Der Himmel über Berlin von Wim Wenders geschrieben hat und das so endet: «Als das Kind Kind war, / warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum, / und sie zittert da heute noch». – Eine einzige Geste, ein Treffer, alles andere tot, wahrscheinlich sogar der Baum. Das Kind, und nur das Kind, als Genie. Im Affekt. Der Rest ist Fortschreiben.

Peter Handke kommt, in seiner ganzen Herrlichkeit, von Tolstoi, von Homer, von Cervantes; Rainald Goetz, in seiner inzwischen von der Tragödie der Skepsis verschatteten Herrlichkeit, kommt aus dem Pop. Popliteratur, Poptheorie und Popkritik wollen Erfahrungen jugendlicher Kraft unsterblich machen, indem sie diese mit Musik verbundenen Erfahrungen zur Grundlage von Ästhetik und Theorie erklären. Die Erfahrung von «Pop» soll etwas sein, das nicht mehr wegzudenken ist und durch das alle fortan hindurchdenken müssen.

Das Ganze beruht natürlich auf der Annahme, dass die Jugend mit ihren Erfahrungen mehr wert ist als das Alter – auf Ageism, wie man heute sagen würde. Pop ist ewige Jugend. Pop ist außerdem reine Männersache, und Sexismus gehört dazu: «Es ist tatsächlich nicht einzusehen, warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von Titten einer 19jährigen haben sollte, an die man gerne faßt» (Rolf-Dieter Brinkmann, 1969).

Goetz sucht im Pop die Sekunde, vielleicht auch die Minute der wahren Empfindung. Auch in den Texten, die in wrong versammelt sind, sucht er sie so sehr und unbedingt, dass er nicht mehr weiß, ob ihre Wahrheit nicht schon beschädigt, dass er sie beschreibt. Er muss sich dann entscheiden zwischen dem Rausch des Augenblicks und seiner Beobachtung und kann es nicht, und in diesem Spannungsfeld hält er es schon seit vielen Jahren aus.

Das schließt auch die Verherrlichung einer besonders kurzen Aufmerksamkeitsspanne ein – in Johann Holtrop, seinem Roman des «spekulativen Realismus», der so viel weniger Anerkennung gefunden hat, als er gehofft hatte, heißt es auf Seite 271: «Das Leben des Menschen in der Gegenwart dauert drei Tage, mehr Zeit kann er nicht inkorporieren und so verlebendigen. Und weil die Gegenwart des Geistes nur drei Sekunden dauert, ist der Geist vom Leben dauernd so sehr, fast unmenschlich, möchte man sagen, überfordert.»

Menschen mit ADHS müssten sich in diesen Sätzen wiederfinden können. Goetz ist das Genie des Sich-ablenken-lassens. In der geschlossenen Form des Romans war das schwer, in den Texten von wrong funktioniert es oft wieder: glänzende Sprunghaftigkeit, leuchtende Inkohärenz. Manchmal bindet der Autor sich aber auch den Vatermörder um und produziert eine seltsame Form von Festschriftprosa.

Existenzfrage

In den besten Momenten ist wrong ein Buch des Zweifelns an den eigenen Impulsen. Ein Buch, in dem Goetz in jedem Text die Existenzfrage stellt: nach der Existenzberechtigung der eigenen Texte, des eigenen Schreibens, des eigenen Lebensplans als Schriftsteller und Genie. Eine Frage, die er in unterschiedlicher Intensität immer wieder gleich beantwortet, nämlich gar nicht oder in sehr reizvollen poetischen Ausweichbewegungen. Verunsichert ist Goetz vielleicht vor allem von der Tatsache, zu dem geworden zu sein, was er immer verachtet hat: erwachsen, alt. Er hat verherrlicht, was keine Dauer hat, und sein Leben dauert trotzdem weiter an.

Die Verunsicherungen werden dokumentiert. Damit setzt er im Grunde das Schreibprogramm von Irre fort, seinem Durchbruch aus dem Jahr 1983. In der entsprechenden Textaktion aus wrong erzählt er auf Englisch von der Geburt dieses Erstlingswerks aus dem Schock des Autors, weder Arzt noch Patient zu sein – was nun? Verunsicherung ist der wichtigste Schreibimpuls.

Goetz ist auch deshalb ein Genie, weil er zu klug ist zu versuchen, dieser Verunsicherung durch seine Texte Herr zu werden, überhaupt an Sicherheit zu glauben. Schönheit und Herrlichkeit sieht er nur im Zittern und Wanken. Er ist im Kern antiautoritär, und das hat sein Werk bei aller Verherrlichung der absolut gegenwärtigen, heiligen männlichen Tat, der Schönheit durch Ekstase und Kraft durch Freude davor bewahrt, faschismuskompatibel zu werden. Goetz kokettiert mit Totalität, ohne in die Verherrlichung von Totalitarismus zu verfallen. Anders als Handke.

Ein schönes Bild: Der Autor als Feinmechaniker, der sich auf versponnene Weise unendlich viel Zeit nimmt, das Getriebe seiner Spieluhr auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Der also auch unendlich viel Zeit hat, dem man also auch Zeit gegeben hat. Die Sorglosigkeit, in die das Genie sich eingesponnen hat, wer hat sie ihm geschenkt? Das Resultat seiner Muße ist oft zarte Poesie, wahre Schönheit oder schöne Wahrheit; aber um in diese Position zu kommen, braucht man ganz schön viel Wille zur Macht.

Es gibt die stützenden Strukturen nicht mehr, auf die das Genietum angewiesen ist, die Honoratiorenzirkel aus Männern mit seemännischem Gang, deren geheime Wünsche das Genie erfüllt oder wenigstens veräußert. Es gibt überhaupt sehr viel weniger geheime Wünsche. Der deutschbürgerliche Geniekult braucht ja das Verklemmte, das verrauchte Hinterzimmer, in dem die Herren beschließen, einen schönen jungen Mann, den sie vielleicht heimlich begehren, ihre eigene Verklemmung musterhaft im Rausch auflösen zu lassen, in einem kontrollierten Experiment, das sie jederzeit abbrechen können. Sex-Positivity und Demokratisierung der Lust nehmen dem System seine Not.

Frauen kamen in dieser Geniekultur nur als Musen vor, und bei Rainald Goetz eigentlich gar nicht. Respekt wird bei ihm bis heute ausschließlich Männern gezollt, verächtlich äußert er sich nur über Elfriede Jelinek, die als weibliches Genie das ganze System schon früh infrage gestellt hat.

Moral Turn

Im erstaunlichsten der in diesem Buch versammelten Texte findet der Autor zur Moral. Er stellt alte Urteile über Freunde und Förderer in Frage, und das ist untypisch für Goetz. Bei ihm herrschte sonst das Prinzip, von allen von ihm Begeisterten selbst auch begeistert zu sein, damit sich die gegenseitige Begeisterung endlos steigere. (Positiv formuliert: Herablassung gehört grundsätzlich nicht zu seinem Schreibprogramm als Genie.)

Der Text ist nicht als Soundtrack zu einem Auftritt entstanden, als Rede oder Interview, außer dem Autor ist niemand im Schreibraum. Nichtöffentlichkeit, Arbeitsjournal von 2019, erstveröffentlicht gerade eben im Merkur als Moral Mazes 24. Behandelt werden vor allem die nichtöffentlich entstandenen Tagebücher Michael Rutschkys und deren Veröffentlichung. Sie wurden von Kurt Scheel herausgegeben, einem Vertrauten Rutschkys. Scheel wurde in diesen Tagebüchern verächtlich gemacht und herabgewürdigt und nahm sich später das Leben.

Goetz nennt Rutschkys indiskrete Tagebücher «Verrat an den Freunden und Verrat am Gespräch». Später ist sogar von Missbrauch die Rede. «Plötzlich war man Textopfer von Rutschkys Texten geworden». Er quält sich mit der Figur Rutschky, auf schöne, gründliche und feste Weise, erschüttert, aber nicht verunsichert.

Irre ist, welche Leichtigkeit sich plötzlich im Schreiben von Rainald Goetz ausbreitet, nachdem er sich zu diesem Moralurteil durchgerungen hat, auch fernab der unmittelbaren Rutschky-Betrachtungen. Da gibt es einen in seiner Zaghaftigkeit, geradezu Verstocktheit rührenden Solidarisierungsversuch mit MeToo: «jeder Zaudernde, Schwache soll zugleich geschützt sein von Aufmerksamkeit für seine egal wie diskreten Signale des Zauderns, des Nein, von Verständnis für sie».

Bei allem Zartgefühl verkneift Goetz sich noch immer jeden Hinweis darauf, dass die Bewegung von Frauen ausging, jeden Zaudernden will er schützen, nicht jede Zaudernde, und vielleicht ist ein Zaudern auch nicht unbedingt Schwäche und die Liebe gar kein männlicher Sport, aber immerhin.

Später heißt es: «Es wird also heller durch Me Too, die Kaputtheit der Welt wird weniger und der Streß der Mitmenschlichkeit mehr.» Auch hier hätte ich Fragen: Bedeutet es Stress, die Signale eines Menschen, den man begehrt, ernst nehmen zu müssen? Warum ist es die Aufgabe des begehrten Menschen, den begehrenden Mann von dem Stress seines eigenen Begehrens zu entlasten, der erst daraus entsteht, dass er sein Begehren als Vollzug von Herrschaftsverhältnissen begreift?

Aber immerhin. Ein Fenster geht auf, einen Spalt weit. Das Alter muss nicht nur das sein, als was Goetz es auch hier wieder traurig beschreibt: «die Zeit, wo das Verständnis nachlässt, die Kraft, sich zu überwinden, von sich selbst abzusehen, schwächer wird …». Auch die Verbitterung im Angesicht sozialen Fortschritts könnte nachlassen, und damit auch der Stress.

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Bio:
Robin Detje lebt als Autor, Kritiker und Literaturübersetzer in Berlin. [Mehr lesen]