Love me TenderConstance Debré übers. v. Max Henninger
Matthes & Seitz März 202420 € 152 S.

Wäre nicht ab und an von Handys, Facebook und Instagram die Rede, man käme sich vor wie in die 1950er Jahre zurückversetzt: Ein Mann versucht seiner Ex-Frau das Sorgerecht für ihr gemeinsames Kind zu entziehen, aufgrund ihres «promisken» lesbischen Liebeslebens, ihres neuen Looks sowie der Bücher, die in ihrem Regal stehen. Und kommt – zumindest in erster Instanz – damit durch. Bei der richterlichen Anhörung werden Passagen aus den Werken von Georges Bataille, Tony Duvert und Hervé Guibert zitiert, um der Besitzerin dieser Schriften inzestuöse und pädophile Neigungen nachzuweisen. Die Richterin beäugt kritisch deren Tätowierungen und stuft es als moralisch fragwürdig ein, mit einem Achtjährigen über seine Homosexualität zu sprechen, weil «solche Dinge Kinder nichts angehen». Und überhaupt: Kann eine Frau, die ihren gut bezahlten Beruf als Anwältin aufgibt, um in prekären Verhältnissen ein Buch über lesbischen Sex zu schreiben, eine gute Mutter sein?

Ein Verfahren beginnt, das sich über zwei Jahre hinziehen wird. Unterdessen bekommt der Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen, die Mutter nur ein eingeschränktes Besuchsrecht unter Aufsicht, eine Stunde alle zwei Wochen. Man muss sich immer wieder vergewissern, dass die Autorin von Love Me Tender, Constance Debré, 1972 in Paris geboren ist und ihren als autofiktional angekündigten Roman zwischen 2015 (dem Jahr, in dem sie ihr heterosexuelles Familienleben und ihre Anwaltskarriere hinter sich ließ) und 2020 (der Veröffentlichung des Buches in Frankreich) verfasst haben muss. Vieles von dem, was in Love Me Tender geschieht, erinnert an die prüde Nachkriegszeit, wie sie Patricia Highsmith in ihrem lesbischen Klassiker Salz und sein Preis von 1952 schildert: Auch hier erwirkt ein Ex-Ehemann das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter, weil seine Ex-Frau Carol nun Frauen liebt. Auch hier lässt sich Carol nicht unterkriegen, und zum ersten Mal in der Literaturgeschichte dürfen zwei lesbische Hauptfiguren so etwas wie ein «Happy End» erleben.

Überraschung: Mütter haben Sex

Das Drama, das Debrés literarisches Alter Ego (hier mit den Initialen CD benannt) im Paris des 21. Jahrhunderts durchmacht, liest sich wie ein kafkaesker Psychothriller: Die Manipulationsversuche und Intrigen des Ex-Mannes Laurent, die bange Frage, inwieweit sich der achtjährige Paul von seinem Vater beeinflussen lässt, ob er vor den Gutachtern dessen Worte nachplappern wird, die ständige Unsicherheit, ob Laurent ein bereits geplantes Treffen zwischen Mutter und Sohn in der letzten Minute ohne Erklärung absagen wird. Und immer wieder das quälende Warten auf eine Anhörung, ein psychiatrisches Gutachten, einen Termin beim Familienzentrum. Als dunkler Unterstrom der bittere Hohn, nicht nur von einem vertrauten Menschen verraten worden, sondern überdies als ehemalige Anwältin der Willkür einer Justiz, für die noch immer das Recht des Stärkeren gilt, ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Der in Love Me Tender geschilderte Fall spiegelt in erschreckender Weise die aktuell in vielen Teilen der Welt zu beobachtende Tendenz, «das Kind» als Kampfbegriff zu instrumentalisieren, mit Verweis auf das «Kindeswohl» queere Rechte zu beschneiden und queere Sichtbarkeit einzuschränken.

All dies sind allerdings nicht die Gründe, warum Love Me Tender in vielen englisch- und französischsprachigen Medien als «provokant» und «schockierend» bezeichnet wurde. Die starken Schlagworte beziehen sich vielmehr auf CDs «transgressives» Leben und Lieben, ihre «Radikalität», ihre «Freiheit», ihre «kompromisslose Queerness». Reaktionen, die einer gewissen Ironie nicht entbehren und in ihrer biederen Auffassung von Subversion ebenso wenig in die heutige Zeit zu passen scheinen wie der vorgestellte Rechtsstreit.

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