AustralCarlos Fonseca übers. v. Sabine Giersberg
Wagenbach März 202422 € 192 S.

Schon Jorge Luis Borges wusste, dass der Süden – selbst wenn er bisweilen nur knapp jenseits der Stadtgrenze beginnt – eine Landschaft der Phantasmen ist, in der man sich und gar das ganze Leben nur allzu leicht verlieren kann. Von solchen Beispielen beabsichtigter wie unfreiwilliger Verluste an mehreren Schauplätzen in Lateinamerika handelt auch Austral. Es ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman von Carlos Fonseca, einem 1987 in Costa Rica geborenen, in Puerto Rico aufgewachsenen und mittlerweile im englischen Cambridge lebenden Autor. Das Etikett des Genieverdachts, das ihm in der spanischsprachigen Literaturwelt seit Längerem anhaftet, hat er sich insbesondere durch seine kunstvoll gebauten ersten beiden Romane erworben: Coronel Lágrimas und Museo animal. In Austral treibt Fonseca dieses Spiel der verschachtelten Ebenen seiner Geschichten noch einmal um einiges weiter, insbesondere was die geografischen und historischen Sprünge der Handlung anbelangt.

Der Protagonist ist ein aus Costa Rica stammender und seit Jahrzehnten in den USA lehrender Literaturprofessor namens Julio Gamboa. Zu Beginn des Romans erhält er einen Brief aus Nordargentinien, in dem er vom Tod seiner Jugendliebe Aliza Abravanel unterrichtet wird, einer in England aufgewachsenen jüdischen Autorin, die in den 80er Jahren nach Lateinamerika migriert war. Dem in einer Mid-Life-Crisis steckenden Gamboa kommt die im Brief formulierte Bitte, sich um die Edition des letzten Werks der Autorin zu kümmern, gerade recht. Bereitwillig verliert er sich in seinen Erinnerungen und macht sich auf den Weg ins argentinische Hochland, wo die an einer zunehmenden Aphasie leidende Abravanel ihre letzten Jahre in einer Künstlerkolonie verbrachte.

Sprach- und Weltverlust prägen als Motive alle drei Teile des Romans. Sie bestimmen auch die Expeditionen des Literaturprofessors in die Manuskripte der Verstorbenen, wobei seine Lektüren – wie für diese Gattung des philologisch grundierten Detektivromans üblich – in erster Linie ein Vorwand sind: für das Sprechen über das Leben der Figuren, ihre Geheimnisse und Obsessionen.

«Forensische Anthropologie»

Gamboa entdeckt, dass seine Jugendliebe nur die letzte in einer langen Reihe von Personen war, die allesamt irgendwann von einer fixen Idee angetrieben in den amerikanischen Süden aufgebrochen waren. Daraus bastelt Fonseca eine erzählerische Matrjoschka, die sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart aufschachtelt. Ausgangspunkt ist die Geschichte der historischen Figur Elisabeth Förster-Nietzsches, die 1886 mit ihrem antisemitischen Ehemann nach Paraguay auswanderte und dort eine dem Rassenwahn verpflichtete Siedlungskolonie namens Nueva Germania gründete. Die Spuren dieses Projekts wiederum verfolgt im Roman siebzig Jahre später ein fiktiver Anthropologe namens Karl-Heinz von Mühlfeld, der ebenfalls nach Paraguay reist, um in einem Akt symbolischer Wiedergutmachung und historischer Vergeltung an den Proto-Nazis zu beweisen, «dass jede Kultur das Produkt von Ansteckung und Vermischung war».

Dieses hehre Projekt einer emphatischen Kulturtheorie wird jedoch zugleich seiner problematischen Dimensionen überführt, wenn der Anthropologe vor Ort auf den letzten Überlebenden eines indigenen Stammes trifft, dessen übrige Mitglieder eben durch Ansteckung mit von Europäern eingeschleppten Masern dahingerafft wurden. Von Mühlfelds Aufzeichnungen wiederum fallen dem Vater Aliza Abravanels in die Hände. Er übersetzt ein Buch des Anthropologen und reist später ebenfalls nach Paraguay, um jenen letzten Indigenen aufzusuchen und so das Projekt von Mühlfelds, der in der Zwischenzeit wahnsinnig geworden war, weiterzutreiben. Doch auch dieses Vorhaben muss scheitern, denn der Indio ist mittlerweile dem Alkohol verfallen und damit nicht mehr imstande, die Überlieferung der Kultur seines ausgerotteten Stammes fortzuführen.

Die letzten Glieder dieser Kette sind die Autorin Aliza Abravanel und der Literaturprofessor Gamboa: Während Abranavels posthumer Roman den bisher aufgetretenen Personen und ihren Geschichten poetisch Gerechtigkeit zuteilwerden lassen will, gerät dem Philologen das Manuskript zum Vorwand, über seine eigenen biografischen Wege zwischen Nord und Süd zu sinnieren. Im letzten Teil des Romans bricht er noch einmal nach Guatemala auf, wo er sich 1980, während der sandinistischen Revolution, von Aliza getrennt hatte. Dort trifft Gamboa auf einen Mann namens Juan de Paz Raymundo, der sich in dem von Bürgerkriegstraumata und Gewalt zerrütteten Land einem Projekt verschrieben hat, das die letzte Volte der Erinnerungsschleifen des Romans dreht: De Paz Raymundo errichtet ein «Theater der Erinnerung», in dem die Zeugnisse guatemaltekischer Gewaltopfer hörbar werden, gesammelt von ihm in einem Akt «forensischer Anthropologie», wie er es selbst nennt.

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