Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heuteFrank Trentmann übers. v. Henning Dedekind u.a.
S. Fischer Okt. 202348 € 1036 S.

Eine Geschichte Deutschlands zu lesen, dickleibig und großformatig, heißt, sich dem «Wir» im Übermaß auszusetzen, im Guten wie im Schlechten. Wie wir wurden, wer wir sind. Warum wir nicht so sind, wie wir zu sein glaubten. Was aus uns noch hätte werden können. Der lange Weg nach Westen. Bestandsaufnahme der deutschen Seele. Oder eben: «Aufbruch des Gewissens».

Vergangenen Oktober hat der deutsche, am Londoner Birkbeck College lehrende Historiker Frank Trentmann ein solches Buch vorgelegt, das es von Umfang und Deutungsanspruch her durchaus mit prägenden Entwürfen von Heinrich August Winkler oder Herfried Münkler aufnehmen kann. Dabei lautete der englische Titel Out of the Darkness, was einerseits der im Zweiten Weltkrieg aufgekommenen Primitivisierung der Deutschen als «huns» Rechnung trägt, andererseits an eine Passage aus Aby Warburgs den Hopi, den frühen Griechen und den Juden gewidmetem Schlangenritual erinnert. Dort heißt es sinngemäß, die Menschen, die aus den Höhlen ihrer Angst und Unsicherheit stiegen, machten sich die Welt mit ihren Symbolen als «Denkraum» intelligibel, denn sie wollten «immer nur ans Licht». Ein dickes Buch deutscher Geschichte führt nicht nur insofern zum Licht, als es beim langen Lesen die Leselampe leuchten lässt. Es will auch selbst ein Wegweiser sein, eine Treppe hinaus aus der Finsternis.

Dabei erscheint der Weg, den die Deutschen aus dem dunklen Jahrzwölft bis gestern Mittag zurückgelegt haben sollen, als Pfad «durch ein Dickicht moralischer Herausforderungen» (Einführung). Unterwegs, so Trentmann, hätten die Deutschen «beachtliches moralisches Kapital» angehäuft (Schlusskapitel). Mit welchem Moralbegriff hier gearbeitet wird, ob die Moral der Deutschen eher emisch oder etisch, aus der Innen- oder Außenperspektive betrachtet wird (die Einleitung evoziert Ersteres, der Schluss Letzteres), ist nicht durchgängig klar. Die Kontrolle auf die Passgenauigkeit von Realität und begleitender Vorstellung, die die Struktur von Trentmanns Deutschland-Aufnahme bildet, bekommt somit etwas leicht Viktorianisches. Man kann dann eigentlich nur hoffen, dass es auf dieserart «Kapital» auch Zinsen gibt.

Das Buch hat, selbst in seiner eilig angefertigten und zeitgleich veröffentlichten deutschen Übersetzung, durchaus Stärken. Es lässt die deutsche Nachkriegsgeschichte nicht in einer vermeintlichen «Stunde Null» beginnen, sondern an dem Wendepunkt, der dieser Fiktion eines radikalen Neubeginns vorausging: Stalingrad als Ende des Glaubens an einen deutschen «Endsieg». Trentmann erzählt chronologisch mit thematischen Vertiefungen vom Kriegsende, von der Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen aus den Ostgebieten, von den Organisations- und Lebensentwürfen in den neu entstehenden deutschen Staaten. Er rekapituliert die Entwicklung der Sozialsysteme, aber eben auch der jeweiligen Spar- und Konsumgeschichte in Ost und West, die «Ankunft im Alltag», den Umgang mit kollektiven Herausforderungen wie Knappheit, Arbeitslosigkeit, Migration und Integration.

Frank Trentmann bezeichnet sich selbst als «historischen Anthropologen», das heißt als einen Forscher, der die Bedingungen des Alltäglichen rekonstruiert, der aus einem unendlich vielfältigen Material – aus der Lektüre von Leserbriefen, Eingaben an staatliche Autoritäten, Prozessakten und Fragebögen – seine Daten gewinnt. Er schreibt also eine Geschichte von unten, die naturgemäß eine Geschichte des Sowohl-als-auch ist: 1942 glaubten die Deutschen an Volksgemeinschaft und kollektiven Sieg. Sterben oder sich retten musste dann doch jeder für sich allein. «Volksdeutsche» Flüchtlinge wurden nur dort gut aufgenommen, wo man auch Fremde schon integrierte: an Ruhr und Rhein. Und obgleich nach 1949 die DDR eine eigene sozialistische Moral mit zehn Geboten ausrief, erlegte die Mangelwirtschaft den Bewohnern einen Egoismus auf, der sie zu Meistern in der «art of making do» machte. Wenn Trentmann Tagebücher und Korrespondenzen auswertet – dies geschieht besonders im ersten Teil – vermag er andererseits berückende Zeugnisse von Würde, Stolz und Eigensinn zu präsentieren: die Geschichte des jüdischen Internisten Ernst Neißer zum Beispiel, der sich vor seiner anstehenden Deportation nach Theresienstadt das Leben nahm. Er arrangierte seinen Tod als letzte Bestätigung eines guten Lebens.

Die Wendepunkte der zweiten Kriegshälfte, Auschwitz auf der einen, Stalingrad auf der anderen Seite, markieren die Extreme, aus denen heraus sich die deutsche Nachkriegsgeschichte fortschreibt. Angesichts dieser Ereignisse nehmen sich die folgenden siebzig, achtzig Jahre wie ein langwährendes – bei Trentmann über achthundert Seiten entfaltetes – Nachwort aus. Das gilt auch für einen Komplementärbegriff zur «Moral», das Gewissen: Dieses meldet sich (oder es fehlt) angesichts der Kriegsgräuel und passt sich in den späteren Jahrzehnten eher an, als dass es sich weiterentwickelt.

Gewissen und Moral

Die Betonung des «Gewissens» als Quelle ethischer Entscheidungen setzt, im Unterschied zur «Moral», einen dramatischen, auch protestantischen Akzent: das Gewissen «erwacht» oder «regt sich», das heißt, es verändert die Personen oder bringt sie als solche erst hervor. Die Moral hingegen stellt ein Register überlieferter und akzeptierter Handlungsoptionen zur Verfügung. Wo Moral nicht ausreicht oder wo sie schlichtweg nicht hinlangt, muss das Gewissen einspringen – wie im Deutschland des Jahres 1942, in dem Trentmann den «Aufbruch des Gewissens» verortet. Ob dem eine neue Moral folgte, ob und wie diese institutionell abgesichert wurde, bleibt zunächst eine offene Frage.

Bei Trentmann findet sich eine Skizze zur Theorie der Moral und des Gewissens oder gar zu ihrer Wechselbeziehung lediglich in der Einleitung. Man vermisst Begriffsscharfes umso mehr, als die von ihm gewählten Beispiele zwar anschaulich, aber auch widersprüchlich sind. Der Historiker zeigt etwa, wie sich nicht nur Widerstandskämpfer wie die Weiße Rose auf ihr Gewissen beriefen, sondern auch Mittäter. Anhand der Tagebücher eines Wehrmachtsoffiziers zeichnet er eine solipsistische Ethik nach, die immer wieder um die Frage kreist, wie ein Soldat ethischen Forderungen überhaupt entsprechen kann. «Im Juni 1943 fasste Reichardt eine Predigt aus dieser Zeit zusammen, die er gehört hatte. Im Krieg gehe es nicht um Geld, Macht oder Ruhm und auch nicht darum, dass ‹Nationen sich gegenseitig ausbluten›, sondern um einen ‹Kampf um die Reinheit der menschlichen Seele›. Durch das Opfer reinige der Krieger seine Seele und ‹finde seinen Weg zurück zu Gott als sein demütiger Sohn›.»

Gerade deshalb empörten den Wehrmachtsoffizier Reichardt die systematischen Kriegsverbrechen: Sie korrumpierten das Ideal des guten Soldaten, der entweder den Krieg überstehen oder vor das Angesicht des Erlösers gebracht würde. Sein Versuch, gut zu sein, entsprang keinem Mitgefühl für andere – für die Opfer von Völkermord und Kriegsverbrechen etwa – , sondern der Affirmation des auf ihn selbst gerichteten Gewissens. Für den Militär war das Gewissen eine Selbsttechnik der Immunisierung, des Abstand-Nehmens. Zugleich erlaubte es ihm und anderen Wehrmachtsangehörigen, in der Menge mitzutun.

Über dieses Beispiel, das Trentmann über beinahe ein halbes Kapitel verfolgt, ließen sich, als wären sie Schablonen, Abschnitte aus Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) legen. Allerdings müsste man sie soziologisieren, indem man herausarbeitet, dass Heideggers «Selbstsein» eben auch deshalb anzog, weil es Elitismus in der zeitgenössischen Massengesellschaft erlaubte. Heideggers Kategorien haben sowohl faschistisches als auch demokratisches Potenzial, ja schaffen geradezu ein Vexierbild. Nicht umsonst widmen sich lange Passagen in Sein und Zeit der Ablösung des Gewissens von der Sittlichkeit.

Protestantische Mitleidslosigkeit

Eine zweite Interpretationsfolie Trentmanns ist der deutsche Protestantismus: eine Konzeption von Ethik und Metaphysik, in der der ethisch Angerufene allein vor seinem Gott steht, nicht nur am Lebensende, sondern täglich, in jeder Situation des Lebens. Jorge Luis Borges etwa hielt die Idee dieses permanenten Geprüft-Werdens nicht nur im Blick auf Goethes Faust für etwas spezifisch Deutsches: «Ihr mit eurem Ist-gerichtet Ist-gerettet».

Tatsächlich zeugt dieses Vorauseilen hin zum Urteil von Unterwürfigkeit, einer Art Untertanen-Sinn, ja Infantilität (gleich den Kindern, die für alles unbedingt Noten erhalten oder erteilen wollen). Und es zeugt von einem Unbehagen, mit seinesgleichen Umgang zu pflegen. Es äußert eine grundsätzliche Asozialität: Man teilt sich dem anderen nicht durch Begegnung oder das Sich-Anschauen mit, sondern dadurch, dass man vor Gott gleichsam zum Appell antritt. Mitleid hingegen ist ein Affekt, bei dem, wenn er handlungsleitend werden soll, etwas von Angesicht zu Angesicht wandern und einen mimetischen Zusammenhang stiften muss. Mitleid zieht das Ferne ins Nahe kraft der Fähigkeit, sich in eine andere Person hineinzuversetzen. Über Reichardt schreibt Trentmann, Mitleid habe er nicht gekannt. Mitleidlosigkeit ist einer der vordringlichsten Züge des deutschen Protestantismus.

Zugleich ist diese Mitleidlosigkeit, so paradox der Gedanke klingen mag, die Voraussetzung einer Ethik, die über die Ferne funktioniert: Erst in Bezug auf ein gemeinsames Höheres rückt der Andere aus der Ferne ins Nahe, wird eine Ethik ausdehnbar (Henning Ritter entfaltet diesen Gedanken in seinem Buch Nahes und fernes Unglück aus dem Jahr 2004). Für das Zusammenbrechen einer jeden Sozialethik die protestantische Tendenz zum ethischen Solipsismus verantwortlich zu machen, wäre also wenig plausibel. Über die komplexen Formen und Gründe der Mitleidlosigkeit gibt es allerdings weit mehr zu berichten, als der Aufbruch des Gewissens es tut.

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