Claassen Feb. 2024 22 € 176 S.
Homunculus Feb. 2022 22 € 176 S.
März Verlag Feb. 2024 29 € 459 S.
Hanser Feb. 2024 22 € 176 S.
kookbooks Sept. 2023 24 € 88 S.
Manche Lebenssituationen bringen tiefe Erschöpfung mit sich: Man kann keinen klaren Gedanken fassen. Schon deshalb ist es schwierig, über Mutterschaft als Erfahrung zu schreiben. Seit einiger Zeit wird es trotzdem getan, und besonders viele Beispiele findet man im diesjährigen Frühjahrsprogramm der deutschsprachigen Verlage.
Zwischen den vier hier besprochenen Prosawerken fallen einige Gemeinsamkeiten auf: Die Texte sind autofiktional. Zwar ist keiner eindeutig autobiographisch, aber sie alle stellen eine Protagonistin in den Vordergrund, die zur Autorin zumindest in Teilen große Nähe aufweist. Die Protagonistinnen sind Schriftstellerinnen oder Geisteswissenschaftlerinnen. Alle haben mit psychischen Problemen zu kämpfen. Die Väter beteiligen sich an der Elternschaft und unterstützen die jungen Mütter. Sämtliche Protagonistinnen werden als emanzipierte Frauen dargestellt. Doch ihre Gedanken kreisen exzessiv um gesellschaftliche Konventionen und soziale Normen.
Literaturkritik bleibt oft bei der Frage hängen, ob ein Buch gut oder schlecht ist. Interessanter finde ich, zu fragen, für wen es geschrieben ist. Das ist bei den vorliegenden Büchern besonders schwer zu sagen.
Roschal 1: Warten auf das Ende
Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten ist der zweite Roman von Slata Roschal. Wie der Titel beginnen viele Sätze im Buch mit «Ich». Die Ich-Erzählerin Maria ist 32 Jahre alt, Literaturwissenschaftlerin und stammt aus Polen. Sie arbeitet unter prekären Bedingungen als Übersetzerin und ist Mutter von zwei kleinen Kindern. Ihr Mann heißt Gernot, verdient gut und scheint ganz nett zu sein.
Weil Maria es aber zu Hause nicht aushält, liegt sie auf einem Bett in einem Hotel, lackiert sich die Fußnägel, trinkt Rotwein und schreibt Briefe an einen längst verstorbenen Deutsch-Amerikaner, dessen Texte sie eigentlich übersetzen soll. Sie hadert mit der versandeten Uni-Karriere und dem ausbleibenden Erfolg als Schriftstellerin. Sie hadert mit dem eigenen Frausein und mit anderen Frauen. «Wie Schachfiguren» seien andere Mütter, «selbst auf Abstand gefährlich». Am schwierigsten erscheinen ihr die Beziehungen zur eigenen Mutter und Tochter. Sie überlegt, ob ihr erblich bedingt ein «Lustorgan» für Mutterliebe fehlt.
Das Buch hat eine starke Wirkung: Es fühlt sich an wie ein Film von Angela Schanelec, wenn man Schanelec-Filme nicht mag. In Abwesenheit jeglicher Lebensfreude ist alles schal: Es gibt keine Handlung, keine innere Entwicklung der Figur, keine Dialoge. Kommata reihen endlose Halbsätze aneinander. Schleppend und träge und übermäßig kompliziert windet sich das Format (ist es ein Roman? eine Autobiografie? ein Brief?) durch die eigene Findungsphase, und hat kein Ziel. Und kein Ende: Der Roman bricht auf Seite 165 einfach ab.
Die Autorin hat einiges mit ihrer Protagonistin gemein: Roschal wurde ebenfalls 1992 geboren, allerdings in Russland, nicht in Polen, und hat wie ihre Ich-Erzählerin Maria über Dostojewski promoviert. Das nährt den Verdacht auf Autofiktion, zumal man im Buch vergeblich nach dem Roman sucht, der auf dem Buchcover angekündigt ist.
Autofiktion – dieses Zwischending zwischen autobiographischem und fiktionalem Schreiben – musste sich seit dem Aufkommen des Begriffs in den 1970er Jahren immer wieder gegen den Vorwurf behaupten, eine Lügenmasche zu sein. Gegen Belletristik ist das kein wirklich starker Einwand, aber im schlechtesten Fall wirkt ein autofiktionaler Text dann doch wie eine faule Ausrede. Der Schreibende braucht nicht viel mehr tun als sein Tagebuch abzutippen, kann auf einen Authentizitätsbonus hoffen und sich trotzdem hinter einer Figur mit anderem Namen verstecken. Er kann Mitleid ernten, ohne sich persönlich angreifbar zu machen. (Letzteres ließe sich auch durch Schreiben unter Pseudonym erreichen, Ersteres nicht.)
Autofiktion bietet also einige Vorteile für den Schreibenden. Was sie den Lesenden bringt, ist in diesem Fall weniger leicht zu benennen. Bei allem Bemühen, die Frau zu verstehen, die da erzählt, bleibe ich doch verwirrt zurück, wer diese Frau nun eigentlich ist.
Roschal 2: Immer wieder auf Anfang
Schaut man sich den ersten Roman von Slata Roschal an, 153 Formen des Nichtseins, der 2022 erschien und für den Deutschen Buchpreis nominiert war, so erscheint die depressive Grundstimmung von Maria etwas besser nachvollziehbar, auch wenn es hier eigentlich um eine Frau namens Ksenia geht.
Auch hier sind die Parallelen zur Autorin nicht zu übersehen. Die Ich-Erzählerin hat ebenfalls osteuropäische, nämlich russische Wurzeln, und außerdem (etwas ungesichert) jüdische. Wie Slata Roschal und Maria ist auch Ksenia eine junge Literaturwissenschaftlerin, forscht zu Dostojewski und ärgert sich über Literaturstipendien, die sie nicht bekommen hat. Auch sie hat einen Sohn, dieser heißt hier nicht Eliah, sondern Emil, und sie wünscht sich ein zweites Kind, hat aber Angst, dass es ein Mädchen werden könnte. Ksenia und Maria könnten ein und dieselbe Figur sein.
So ist auch das Hauptthema hier ein ähnliches: Ksenia fühlt sich der deutschen Gesellschaft genauso wenig zugehörig wie der russischen oder einer jüdischen. Auch den Zeugen Jehovas hat sie den Rücken gekehrt und sich damit den Kontaktabbruch von ihrer Familie eingehandelt. Der Titel besagt es: In 153 Kleinstkapiteln spricht sie von den diversen Formen ihres Nichtseins. Das Nichtsein ist dabei durchweg ein Nichtglücklichsein.
Obwohl es auch in 153 Formen des Nichtseins keine Handlung, keine Entwicklung der Figur gibt, stehen Inhalt und Form in einem gewissen Resonanzverhältnis. Das als chaotische Textcollage beschriebene Leben gleicht aufgrund der schwierigen familiären Situation tatsächlich einem Scherbenhaufen, und in den Kindheitserinnerungen, in den Auszügen von russisch-deutschen Datingwebseiten oder einer zitierten CDU-Pressemitteilung über die Unabdingbarkeit deutscher Sprache für gelungene Integration sprühen immer wieder Funken poetischen Irrwitzes. Der Roman gibt Einblick in die gewaltige Schwierigkeit, vor der Ksenia steht: Die eigene Rolle als Mutter zu finden, wenn man sich von der eigenen Mutter lossagen musste. Es ist ein Roman über einen inneren Kampf.
Roschals erster Roman enthält stärkere Passagen als der zweite, aber beide haben das gleiche Problem: Sie sind, obwohl kurz, einfach zu lang. Was auf einer einzigen Seite wie eine überzeugende Miniatur einer Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs wirkt, verliert an Kraft, wenn es noch 150 weitere Seiten in ganz ähnlichem Duktus gibt. Noch das sprachlich stärkste Stück wird zur Leier, wenn es sich endlos wiederholt.
Ich habe Sorge, missverstanden zu werden: Es kann große Kunst sein, die Traurigkeit eines Menschen zu zeigen. Doch wenn die Schilderung eines depressiven Menschen den Leser gleichermaßen deprimiert zurücklässt, ist nichts gewonnen. Dass das Schlechte auf der Welt ein Eigenleben hat, Teufelskreise bildet, ansteckend ist und unoriginell, ist hinlänglich bekannt und erklärt den fatalen Impuls, ausgerechnet jene Menschen zu meiden, die eigentlich Hilfe bräuchten.
Literatur ist unter gewissen Umständen in der Lage, diesen Impuls auszutricksen; dann kommt Interesse, sogar Mitgefühl und Verständnis auf. Das passiert allerdings, selbst bei autobiografisch geprägten Texten, nicht automatisch. In ihrem neuen Roman, in dem Maria Rotwein trinkt und auf ein Ende wartet, setzt Slata Roschal ihren Lesern den Tunnelblick eines Monologs vor, von dem nicht klar wird, warum er gehalten wird. Und vor wem und für wen? Das vorherrschende Gefühl, das sich bei der 176 Seiten langen Lektüre über innere Leere einstellt, ist innere Leere.
Ravn: Perlen im Schwemmholz
Die dänische Autorin Olga Ravn, 1986 geboren, hat 2020 ein Buch geschrieben, das nun auf Deutsch vorliegt und vom März Verlag ohne Genre-Bezeichnung verlegt wird. Meine Arbeit ist dick wie ein Roman, beinahe 500 Seiten. Man kann das Buch abschnittsweise auch wie einen Roman lesen, denn es enthält schöne erzählerische Passagen aus dem Alltag junger Eltern.
Den Ausgangspunkt bilden Notizen aus dem Jahr 2016, aus einer Zeit mit dem ersten Kind. Die Gedanken aus Schwangerschaft und Stillzeit erscheinen der Ich-Erzählerin später so fremd, dass sie auf der ersten Seite Folgendes klarstellt: Die Aufzeichnungen seien nicht von ihr selbst verfasst worden, sondern von einer Frau namens «Anna». Sie selbst habe die Hefte bloß einige Jahre später gefunden, sortiert, und als Buch herausgegeben. Zugang zu dem merkwürdigen Denken und Fühlen von Anna fand sie nur, weil sie selbst zum zweiten Mal schwanger war: Wie eine Zeitreisende ist sie in den Zustand von damals zurückgekehrt.
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