Hanser Aug. 2003 26 € 288 S.
Hanser März 1998 18 € 352 S.
C.H. Beck Jan. 1992 12,95 € 344 S.
Jan Assmann ist nicht verstorben, er ist in unser kulturelles Gedächtnis eingegangen. Oder besser: Er ist zum Gedächtnis unseres Gedächtnisses geworden, indem er uns erinnerte, dass Kultur auf kollektivem Erinnern beruht; ein Erinnern, das unser kollektives Dasein ausmacht. Wir sind eine Geschichte, die wir teilen.
Als nach dem Ende des Kalten Krieges die Idee des Nationalstaats wieder an Bedeutung gewann, lieferte Assmanns Begriff des kulturellen Gedächtnisses ein nicht-essentialistisches Modell menschlicher Kollektive. Völker, Nationen, Zivilisationen müssen nicht als Essenzen aufgefasst werden, als feste Substanzen, die sich im Laufe der Geschichte selbst erhalten. Sie können auch als kollektive Formen der Selbstdarstellung verstanden werden, als Kulturen, die sich ständig neu formieren und sammeln, das heißt sich wiedererinnern – und wieder vergessen.
Das kulturelle Gedächtnis eröffnete neue Wege zum Verständnis von Kollektiven. Sein Gegenstand ist nicht die materielle Existenz von Völkern im Laufe der Zeit. Stattdessen interessiert es sich für Gedächtnisgeschichte, das heißt für die überlieferten Erzählungen, die das transgenerationelle Bewusstsein konstituieren. «Sie fragt nicht, wie es eigentlich gewesen war, sondern wie und warum es erinnert wurde», schrieb Assmann über die Gedächtnisgeschichte. Eine jüdische Wissenschaft, könnte man sagen, um Yosef Chayim Yerushalmi zu folgen, der feststellte, dass die jüdische Tradition niemals Geschichtsschreibung hervorgebracht hat, sondern nur Erinnerung, Zakhor. «Damit du dich an den Tag deines Auszugs aus Ägypten erinnerst.»
Die Gedächtnisgeschichte untersucht die Erinnerung als Fiktion, die der Realität nicht widerspricht, sondern sie motiviert. Eine kollektive Existenz, eine spezifische Kultur zu erfassen – was ist das Deutsche, das Jüdische, das Europäische –, ist wie die Analyse einer Geschichte oder einer Phantasie, wie Traumdeutung.
Assmanns Analysen der kollektiven Psyche sind stark von der Freud’schen Wissenschaft inspiriert. Wie Freud suchte Assmann die Bedeutung des Gedächtnisses in dem, was es vergisst oder verdrängt: im Unbewussten hinter dem Bewussten, im Trauma hinter dem Traum. Das kollektive Gedächtnis wird wie das individuelle aus einer Wunde geboren.
Die Wissenschaft vom kollektiven Trauma hatte im wiedervereinigten Deutschland eine klare Bestimmung. Assmanns Gedächtnisgeschichte ist die Psychoanalyse einer Nation, die auf dem Gedenken an die Katastrophe aufgebaut ist. Sich an Assmanns Werk zu erinnern, heißt, das zeitgenössische deutsche Bewusstsein zu studieren. Die Motive, die er aus den Untiefen unseres kulturellen Gedächtnisses ausgegraben hat, treten in unserer gegenwärtigen kollektiven Störung prominent hervor: Israel, Ägypten, Antisemitismus.
Die Wunde Ägypten
Das Wort «Analyse» beschreibt gut, was Assmann tat. Er versuchte, der westlichen Zivilisation einen Sinn zu geben, ihren Antrieb und ihr Leiden zu verstehen, indem er den Riss freilegte, aus dem sie hervorging, den Bruch zwischen ihrer Abwesenheit und ihrem Bestehen. Seine Archäologie verfolgt die westliche Erinnerung zurück bis zu einem ursprünglichen Schnitt. Am Anfang war eine Unterscheidung.
Vous n’êtes pas autorisé.e à consulter le site depuis cette adresse IP.