Unter dem Motto »Alles außer flach!» präsentieren sich die Niederlande und Flandern als Gastland auf der Leipziger Buchmesse. Eines der größten Probleme der Gegenwartsliteratur besteht aber gerade darin, dass sie in einer Landschaft entsteht, die immer flacher wird. Verantwortlich für diesen globalen Trend, der die niederländischsprachige Literatur mit besonderer Wucht ereilt, ist die angloamerikanische Marktdominanz. Es hat sicher Vorteile, wenn Kulturen wechselseitig füreinander offen sind; es gibt Freiräume und Möglichkeiten, die eine streng nationale Tradition nicht zulässt. Aber es schafft zugleich Blasen, in denen eine Handvoll internationaler Titel unverbunden herumschwirren (in der Mehrzahl Romane, die sich als Realismus verkaufen lassen), isoliert voneinander und den Kontexten entbunden, die ihnen Sinn und Bedeutung verleihen.
Wie Literaturpreise neigen auch Buchmessen dazu, noch mehr heiße Luft in diese Blasen zu pusten, indem sie Blockbuster-Erzählungen aus einer bestimmten Region auf ihr kommerzielles Potenzial für den globalen Markt hin trimmen. In einer jüngeren Episode des hauseigenen Podcasts Hanser Rauschen wies Hanser-Verleger Jo Lendle auf eine bemerkenswerte Tatsache hin: Die Buchmärkte Skandinaviens und der Niederlande seien praktisch erledigt, weil die Leute entweder Netflix schauten (gemeint ist natürlich auf Englisch) oder erst gar nicht läsen. Und läsen sie doch, dann eben nicht in ihrer Nationalsprache: Zum Nachteil des heimischen Marktes sind sie zu gut darin geworden, englische Übersetzungen zu konsumieren.
In Gefahr scheint ein Begriff von Kultur, der immun ist gegen Kommerzialisierung und einseitige Internationalisierung. Es schwinden die Kräfte, die sich einer geistigen Gentrifizierung widersetzen, welche lokalen Praktiken verschlingt und alles verdrängt, was nicht aus UK oder den USA stammt. Früher kannten sich die niederländischen Schriftstellerinnen bestens in der deutschen und französischen Literatur aus. Sie mühten sich, richtungsweisende Strömungen aus den Literaturen der größeren Nachbarländer aufzuspüren und sich anzueignen. Heute findet ein solcher Transfer fast nur noch dann statt, wenn diese Strömungen die großen verlegerischen Drehkreuze in New York und London überwunden haben. Ein prominentes Beispiel ist Annie Ernaux: In den 80er und 90er Jahren erschienen durchweg niederländische Übersetzungen ihrer Bücher, doch der Durchbruch kam erst, nachdem sie sich auf den englischen und amerikanischen Märkten durchgesetzt hatte. Bei allem Respekt vor Pascale Casanova: Selbst Paris spielt heute nur noch eine Nebenrolle.
Buchmesseschwerpunkte wie der diesjährige in Leipzig oder jener 1993 in Frankfurt mögen ein kurzfristiges Interesse an den Niederlanden wecken und einem Moment des grenzübergreifenden Dialogs in Gang bringen. Insgesamt gesehen dürfte die Kluft zwischen deutscher und niederländischer Literatur aber noch nie so groß gewesen sein wie heute. Die Deutschkenntnisse der Niederländer:innen schwinden dramatisch, die Universitäten haben Mühe, neue Studenten zu gewinnen oder Deutsch als festen Teil ins Curriculum der Europastudiengänge aufzunehmen – ein Schicksal, das kleinere Sprachen und Orchideenfächer schon länger ereilt hat. Im dreisprachigen Belgien, das historisch mit Minderheitensprachen umzugehen gelernt hat, ist die Situation etwas anders. Während sich für die Niederlande eine rasante Internationalisierung (lies: Amerikanisierung) zu rechnen schien, half die notorisch vertrackte sprachliche und politische Situation den Belgier:innen dabei, den von den niederländischen Eliten so geliebten Tabula-Rasa-Ansatz abzuwehren. Das Ergebnis: Die Geisteswissenschaften sind im südlich gelegenen Belgien noch nicht ganz so verwaist wie im Norden, boven Moerdijk.
Het is warm in the hivemind
Die anglo-amerikanische Kulturproduktion beherrscht nicht nur das kommerzielle Verlagswesen, sie beeinflusst auch die dezidiert intellektuellen und avantgardistischen Kreise. Abweichende Stimmen sind, manchmal auf zweideutige Weise, dort zu hören, wo man sie nicht unbedingt erwartet. Maxime Garcia Diaz’ Gedichtband Het is warm in the hivemind [«Es ist warm im Hivemind»] aus dem Jahr 2021 ist einer der ersten Gedichtbände, der auf Niederländisch erscheint und die Herkunft seiner Autorin als eingefleischte digital native preisgibt. Weit davon entfernt, ein bloßes Internet-Gimmick zu sein, intoniert der Band brüchige Zukunftsvisionen persönlicher und kollektiver Befreiung. Im Gegensatz zu einer handelsüblichen Biografie operieren Diaz’ Gedichte als digitale, diagonale Erforschung von Freiräumen. Dabei arbeiten sie sich an einer «nicht-linearen Girl-Historiografie» ab, wie Diaz in Anlehnung an Audrey Wollens Sad Girl Theory formuliert.