C.H. Beck Aug. 2023 25 € 396 S.
Penguin März 2017 11,99 $ 464 S.
Kein & Aber Sept. 2011 6,80 € 368 S.
Stanford (Dissertation, unv.) Sept. 2007 221 S.
Wer viel vom eigenen Schreiben hält und auch noch davon leben will, steht irgendwann vor der Frage: Soll man ihn wagen, den entscheidenden Schritt in das Autorinnenleben in Vollzeit? Oder begnügt man sich mit einer scheinbar weniger glamourösen Existenz als Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin? Es scheint, als hätte die Woche auf Dauer zu wenige Stunden für beides. Bis zu einem gewissen Punkt lässt sich die Entscheidung vertagen, dann wird sie unausweichlich, oder man merkt, der richtige Moment ist längst verstrichen. Schreiben ist Würfeln, und egal wie die Augen am Ende liegen, die Chancen stehen gut, dass man sich grämt. Entweder man war für das Risiko der Kunst zu mutlos – oder man hat zu lange gezögert und steht jetzt mit leeren Händen da.
Es gibt Journalisten, die gelegentlich einen Roman veröffentlichen (manchmal sogar einen guten). Und es gibt Schriftstellerinnen, die herausragend Kritiken schreiben können und geräuschlos in die Haut von Reportern schlüpfen. Elif Batuman will beides, sie will es uneingeschränkt, und es scheint ihr bisher auch uneingeschränkt zu gelingen. Schon als Doktorandin in Stanford schrieb sie Texte für Magazine und Zeitschriften, nach der Promotion 2007 dann für renommierte Blätter wie die New York Times, Harper’s Magazine, die damals frisch gegründete n+1 aus Brooklyn und bis heute als staff writer für den New Yorker. Über die rasante Entwicklung, die sich in diesen frühen Texten abzeichnet, kann man nur staunen: Mit jedem neuen Text gelingt es Batuman besser, ihre vier Leidenschaften für Reportage, Kritik, Gossip und Theorie zu einer prismatisch funkelnden Einheit zusammenzufügen.
In The Murder of Leo Tolstoy: A Forensic Investigation (Harper’s, 2009) blickt Batuman zurück, wie sie als junge Doktorandin den Besuch einer Tolstoi-Tagung ausnutzen wollte, um nachzuweisen, dass der im hohen Alter Verschiedene keines natürlichen Todes starb. Die Tagung hat einen numinosen Austragungsort, Tolstois Landgut Jasnaja Poljana, und während die mehr oder weniger betagten Kolleg:innen ihre spleenigen Vorträge herunterrattern, streift Batuman in Watson-Holmes-Manier durch malerisches Gelände, beobachtet die Nachkommen des Großmeisters Lieblingsgefieder von des Großmeisters Lieblingsbank und ist ständig auf der Hut nach Indizien, clues, die Licht ins Dunkel seiner mysteriösen Todesumstände bringen könnten. Dann ist sie selbst mit ihrem Vortrag dran und stellt ihre für Unbeteiligte unkontroverse, bei der Tolstoi-Gesellschaft aber für große Empörung sorgende These vor, dass es sich bei Anna Karenina um einen Roman mit doppeltem Plot handele (für noch größere Empörung sorgt ihre zweite Behauptung, bisher habe niemand bemerkt, wie sehr Tolstois zweitlängster Roman von Lewis Carroll beeinflusst sei).
Wie die Wolken bei Baudelaire ziehen die Paragraphen ohne Ergebnis vorbei, und man will dem Text schon zurufen, was Tolstoi gerufen haben soll, nachdem er die Uraufführung von Onkel Wanja durchgesessen hatte: «Wo ist das Drama?» Ihr Versprechen, die wahren Umstände des Todes aufzuklären, kann Batuman nicht halten. Dafür wird etwas anderes einer «forensischen Untersuchung» unterzogen, nämlich das doppelt biografische Schicksal von Klassikern: für die Zeitgenossen und die Leser:innen bis heute. Aus der gescheiterten Ermittlung schält sich der Essay heraus, und je länger Tolstois Tod im Dunkeln verbleibt, desto lebendiger wird sein Vermächtnis.
Nachgedruckt wurde dieses frühe Meisterstück Batumans in ihrem ersten Buch von 2010, das ihre wunderbar unverkrampft metaliterarischen Essays über «Abenteuer» mit russischen Klassikern und deren Leserinnen versammelt. 2017 folgte ihr erster Roman, 2022 der zweite. Die Bücher heißen The Possessed (Die Besessenen, lies: Die Dämonen), The Idiot (Die Idiotin) und Either/Or (Entweder/Oder). Ein subtiles Spiel mit der Literaturgeschichte, könnte man meinen, denn die ersten beiden Titel spielen auf Dostojewski an, der dritte auf Kierkegaard. Sicher, aber das Spiel hat auch etwas Unsubtiles, so unverstellt offen wie die Referenzen zutage liegen, und deutet außerdem hin auf einen Langzeitplan, eine Schwäche fürs 19. Jahrhundert, Uneitelkeit als Geheimwaffe und viel Sinn für Humor.
Let’s Go!
Im distanzierten Präteritum erzählt Batumans Protagonistin in Die Idiotin ihr erstes Harvard-Studienjahr, in Entweder/Oder ist es, absichtsvoll unsubtil, das zweite. Als Selin zum Semesterstart im September 1996 zurück nach Cambridge, Massachusetts kommt, ist vieles neu und alles beim Alten: Riley ist genervt, weil das neue Wohnheim ein brutalistischer Block ist und kein «efeubewachsenes Gebäude (…), in denen Menschen mit ihren Dienern» wohnten. Selins beste Freundin Swetlana hat ihre erste Belgrad-Reise nach Kriegsende gut überstanden, begünstigt durch intensive Vorgespräche mit ihrem Psychoanalytiker. Und der gemeinsame Freund Jeremy, ein Philosophiestudent, kann sich noch immer nicht zwischen zwei Kommilitoninnen entscheiden, die beide Diane heißen und die ihn beide nicht lieben.
Der Roman hat zwei einfach voneinander unterscheidbare Teile. Der erste spielt auf dem Campus in Harvard, der zweite auf freiem Feld in Zentralanatolien, wo Selin im Auftrag des Harvard-internen Reiseführers Let’s Go als Autorin unterwegs ist, um Fakten zu checken und neue Entdeckungen zu machen. (Wie Selins Großmutter ausruft: «Sie haben also ein Buch über die Türkei geschrieben und dich dann hierhergeschickt, um die Fehler zu korrigieren?») Es gibt ein paar Dinge, die Selin im zweiten Roman und Studienjahr zum ersten Mal tut: Freud lesen, Prozac nehmen, Sex in Harvard haben, auf eine Kostümparty gehen, ohne Tanten und Cousins im Nacken durch die Türkei reisen, sich als Schriftstellerin wahrnehmen, Sex in der Türkei, Kierkegaard. «Auf gut Glück» belegt sie ein Seminar über den Zufall in der Literatur und gerät beim Stöbern nach Büchern des Seminarplans an ein gebrauchtes Exemplar von Entweder – Oder. Kierkegaards skandalöses Frühwerk wird zu Selins Vademecum im sophomore year und strukturiert bald all ihre Lektüren, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und Selbstgespräche.
«Ganz zu Beginn unserer Freundschaft hatte Swetlana mir eines Tages spontan erklärt, sie glaube, ich versuchte, ein ästhetisches Leben zu führen, und dass dies der Hauptunterschied zwischen uns sei, weil sie nämlich ethisch zu leben versuche. Ich verstand nicht genau, warum das Gegensätze sein sollten, und war einen Moment lang besorgt, sie würde denken; ich fände es okay, wenn man betrog oder stahl. Es stellte sich aber heraus, dass sie etwas anderes meinte: dass ich mehr riskierte als sie und mir mehr aus ‹Stil› machte, während ihr Geschichte und Tradition wichtiger waren.» Die Ich-Erzählerin eignet sich das Gelesene auf zwei Arten an: inhaltlich und formal. Einerseits wird Kierkegaards berühmte Unterscheidung von ethischem vs. ästhetischem Leben auf die beiden Freundinnen und ihre unterschwellige Konkurrenz projiziert; andererseits nutzt Selin (und mit ihr der Roman) das Entweder-Oder-Dispositiv als effizientes Werkzeug und Folie zur Selbstbespiegelung.
Wenn man einmal seine Aufmerksamkeit auf diese binäre Heuristik des Entweder-Oder geworfen hat, stößt man überall, vom Größten zum Kleinen, auf sie: Die Gespräche mit den Dekanen der Fakultäten über das Kursprogramm zum Beispiel sind frustrierend, weil die immer das Gesicht verzerren, «als sei man entweder unvernünftig oder unreif». Selins Mutter, bei der eine Zyste entdeckt wurde, steht vor der Wahl: «Entweder könne sie sich operieren lassen, dann würde sie entfernt und sei weg, oder sie könne sich für eine Behandlung ohne Operation entscheiden, bei der man alle sechs Monate zu einer Kontrolluntersuchung gehen müsse.»
Das ist witzig, weil zwei eigentlich nah beieinanderliegende Varianten plötzlich zu einem scharfen Gegensatz erklärt werden – eine sanfte Verfremdung, die entweder zu frischen Sichtweisen verführt oder die verkopfte Künstlichkeit des Verfahrens bloßstellt. Und natürlich wendet, wie Batuman nicht versäumt zu erwähnen, auch Kierkegaard selbst in romantischer Ironie das Entweder/Oder auf sein eigenes Entweder – Oder an: «Laut Einleitung übersprangen viele den ‹ethischen› Teil und sogar den ‹ästhetischen› und lasen nur das ‹Tagebuch des Verführers›. Kierkegaard hatte über Entweder – Oder gesagt, man müsse entweder das ganze Buch lesen oder die Lektüre sein lassen. Kierkegaard war ein Witzbold! Trotzdem habe auch ich bis zum ‹Tagebuch des Verführers› vorgeblättert.»
Mehr noch als ein Witzbold war Kierkegaard ein teuflischer Manipulator, und so kommt es, dass Selin beim Vorblättern zum Tagebuch des Verführers auf einen Spiegel ihrer verkorksten Love-Story mit Iwan stößt. Die Iwan-Geschichte ist ein dominantes Thema von The Idiot, aber auch in Entweder/Oder spielt sie eine tragende Rolle, obwohl der stolze Ungar Harvard in Richtung Berkeley verlassen hat. Seine unheilvoll erotische Präsenz wirkt aus der Ferne nach, denn Batumans Selin-Romane spielen in der Steinzeit von Social Media, in der E-Mails noch Rauchzeichen waren und Herzklopfen verursachten. (Die Idiotin beginnt mit dem Satz: «Was E-Mails waren, lernte ich erst am College.») Selin und Iwan setzen ihre romantische Korrespondenz aus dem ersten Roman (Liebe Sonja, lieber Wanja…) als Re-Enactment toxischer Briefwechsel des 19. Jahrhunderts fort, angereichert um den frühreif metaliterarischen brat-Humor von Ivy-League-Studierenden, aber mit dem Unterschied, dass sich Selin nicht so leicht unterkriegen lässt wie die Damenopfer der sentimentalen Romanciers.
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