Co-Intelligence. Living and Working with AIEthan Mollick
Portfolio Apr. 202430 $ 256 S.

Theodor W. Adorno liebte das Diktat. Während Zeitgenossen wie Roland Barthes selbst zu Tippen lernten, weil sie das Diktieren als Entfremdung vom Schreibprozess empfanden, war die Auslagerung der ersten Schriftfassung an wahlweise seine stenographierende Ehefrau Gretel Karplus oder eine Sekretärin an der Schreibmaschine für Adornos Theoriebildung eine essenzielle Bürotechnik. In seinen Minima Moralia beschreibt Adorno im Jahr 1951, warum das so war.

Adorno fürchtete, eine zu frühe Festlegung auf eine endgültige sprachliche Form könne den Kern seines Gedankens verfehlen. In den Minima Moralia thematisiert besonders der Aphorismus «Lämmergeier», wie Adorno dieser Verzerrungsgefahr auf dem Weg vom Denken zum Text begegnete: mithilfe einer Sekretärin, der er diktierte. Im Diktat fand Adorno das «Risiko der Formulierung», wie er es nannte, vermindert: Wenn die erste Verschriftlichung maschinell gestützt von einer anderen Person vorgenommen wurde, konnte er selbst kritische Distanz zum Wortlaut und die Form der Objektivität auch im Schreiben wahren. Die Nabelschnur war gekappt: Ganz nach dem Motto «kill your darlings» ließ sich das diktiert Formulierte nun diszipliniert und entschieden einer Revision unterziehen.

Heute, 2024, feiert das Frankfurter Institut für Sozialforschung, für das Adorno Zeit seines Lebens arbeitete, 100-jähriges Bestehen, und Adorno selbst ist seit mehr als fünfzig Jahren tot. Wir benutzen keine Schreibmaschinen mehr, oder genauer: Unsere Schreibmaschinen unterscheiden sich signifikant von denjenigen Adornos, weil sie nicht mehr mechanisch oder elektromechanisch funktionieren, sondern digital.

Obwohl ich täglich am Computer sitze und Künstliche Intelligenz seit Jahren wissentlich und unwissentlich nutze (bei der Autokorrektur oder -vervollständigung zum Beispiel) und von ihr benutzt werde (wenn meine Daten für ihr Training verwendet werden), hätte ich lange Zeit nicht behauptet, dass mich die Funktionsweise von KI sonderlich interessiert. Vermutlich geht es vielen so: Man nutzt die Werkzeuge, die KI einem bietet, und stellt keine weiteren Fragen.

Nachdem das Softwareunternehmen OpenAI Ende 2022 sein Sprachmodell ChatGPT veröffentlichte, änderte sich meine Einstellung allmählich. Inzwischen scheint es, als wären die Potenziale und Gefahren des unbedachten Einsatzes von KI das Thema jedes zweiten Forschungspanels. Mein Impuls, die neue Technologie absichtsvoller zu nutzen (und nicht nur von ihr benutzt zu werden) verdankt sich tatsächlich Adornos Diktum des «Risikos der Formulierung». Wenn die Schreibmaschine (inklusive der sie bedienenden Frau) für Adorno ein «technische(s) Hilfsmittel des dialektischen Verfahrens [ist], das Aussagen macht, um sie zurückzunehmen und dennoch festzuhalten», dann frage ich mich, was Schreib-Maschinen wie GPT-4, Gemini oder Claude 3 für geisteswissenschaftlich arbeitende, literaturaffine Leute wie mich tun können.

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