Am 24. April befanden sich die 133 israelischen Geiseln 200 Tage lang in Gefangenschaft. An diesem Tag veröffentlichte die Hamas ein undatiertes Video, das den jungen israelisch-amerikanischen Gefangenen Hersh Goldberg-Polin lebendig, aber abgemagert zeigt. Sein Arm wurde amputiert, wahrscheinlich infolge einer Granatenexplosion am 7. Oktober. Nach Recherchen des Nachrichtenportals Axios wurde das Video bereits einige Tage zuvor an die USA übersandt, um für die Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln guten Willen zu demonstrieren.1

Diese Bilder mochten den Angehörigen und allen, denen das Schicksal der Geiseln am Herzen liegt, Hoffnung geben, ihre strategische Wirkung ist jedoch zweischneidig: Sie sind Teil einer psychologischen Kriegsführung, und frühere Ereignisse lassen befürchten, dass die Hamas als nächstes den Tod von Goldberg-Polin durch Hinrichtung oder durch israelische Bombardierung verlautbaren könnte, um Israel weiter von innen zu destabilisieren und den Druck auf die Netanjahu-Regierung zu erhöhen.

Die Proteste gegen diese Regierung, die einige in Israel inzwischen «Regierung des Bluts» nennen (memshelet hadamim), haben sich auf die Frage der Geiseln konzentriert. Je mehr über Benjamin Netanjahus nahezu kategorische Ablehnung eines Abkommens mit der Hamas bekannt wird, desto mehr Zulauf erhalten die Demonstrationen. Man sollte es sich jedoch nicht zu leicht machen und dem Regierungschef eine Art exklusive Böswilligkeit unterstellen: Die Hamas und ihr Anführer Yahya Sinwar, der über die Verhandlungen letztlich entscheidet, haben immer wieder inakzeptable Forderungen an Israel gestellt.

Bis heute ist nicht bekannt, wie viele der Hamas-Geiseln noch am Leben sind. Da die Geiselnehmer sich weigern, Namenslisten herauszugeben, bleibt die Befürchtung, die meisten seien bereits tot. In Israel selbst spielt sich ihre Tragödie in zweierlei Hinsicht ab: Eine Reihe von sträflichen Versäumnissen von Geheimdienst, Militär und Politik haben die Angriffe des 7. Oktobers erst möglich gemacht, und in einer paradoxen Umkehrung der Situation leiden die Geiseln nebst ihren Familien und Unterstützern nun selbst unter dem Vorwurf, die Einheit des Volkes zu untergraben und unmögliche Zugeständnisse zu fordern.

Die propalästinensischen Bewegungen außerhalb Israels erwähnen die Geiseln nur selten oder stellen sie im Verhältnis zu den Tausenden von Gaza-Toten als vernachlässigbar dar. Schlimmer noch, sie gelten oft als Elemente der Hasbara, der israelischen Propaganda, und seien allein aufgrund ihrer Eigenschaft als «Siedler» schon schuldig. Eigentlich sollte ihr Schicksal wie das der unschuldig bombardierten palästinensischen Zivilisten eine rein menschliche Angelegenheit sein, doch die israelischen Geiseln sind zur Konfliktpartei geworden, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes. Doppelte Einsamkeit und doppelte Strafe. Auf die Situation innerhalb Israels möchte ich im Folgenden eingehen.

Die besten Texte in Ihrem Postfach
Erhalten Sie kostenlos unseren
wöchentlichen Newsletter

Newsletter-Anmeldung

Israels neue politische Spaltung: bring them home vs. crush Hamas

In der französischen Tageszeitung Le Figaro vom 6. Februar 2024 brachte der israelische Journalist Amit Segal, eine Stimme des rechten religiösen Zionismus, die neue politische Bruchlinie in Israel folgendermaßen auf den Punkt: «Es gibt eine politische Spaltung [bezüglich der Geiseln]. Vereinfacht gesagt verorten sich Menschen eher rechts, wenn sie die Vernichtung der Hamas fordern, und eher links, wenn sie die Geiseln befreien wollen. Beides gleichzeitig ist nicht zu erreichen. Man muss sich entscheiden. Ich denke, wir können eineinhalb Ziele verfolgen: die Hamas vernichten und einen Teil der Geiseln freibekommen, vielleicht noch ein Dutzend.» Das Dutzend Geiseln, von dem Segal spricht, soll seiner Ansicht nach durch militärische Operationen und nicht durch einen ausgehandelten Gefangenenaustausch befreit werden – er steht für die «rechte» Seite der Spaltung.

Eine Anfang Dezember durchgeführte Umfrage des Instituts für Israelische Demokratie ergab ein recht interessantes Ergebnis. Gefragt war, in welchem Maße die Befragten einen ausgehandelten Gefangenenaustausch mit der Hamas befürworteten. In der Gruppe der Juden, die ein Kontinuum von Ultraorthodoxen bis zu Säkularen abbildete, sprach sich nur die Untergruppe der Religiösen und der religiösen Zionisten mehrheitlich gegen Verhandlungen aus. Daran ist zu erkennen, dass die Hamas Israel trotz ihrer militärischen Unterlegenheit mit psychologischen Waffen in die Knie zwingt: Da ihr palästinensische Opfer in der Zivilbevölkerung völlig gleichgültig sind, kann sie die für das Schicksal ihrer Zivilisten äußerst empfindliche israelische Gesellschaft auf unbestimmte Zeit erpressen.

Die Hamas kann Israel also eine Rückkehr seiner Geiseln zu exorbitanten Bedingungen anbieten. Was viele Israelis in diesen Angeboten sehen, ist eine Befreiung palästinensischer Terroristen und Kombattanten, das heißt die Gefahr, dass sich der 7. Oktober wiederholt, obwohl das erklärte Ziel des Verteidigungskrieges darin bestand, eine solche Bedrohung ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und keinen Nachbarn mehr zu haben, der seine zerstörerische Gewalt bewiesen hat. Das Leben der heutigen Geiseln der Hamas gegen das ihrer zukünftigen Opfer: So erleben viele Israelis seit Oktober die Debatte.

Die Entscheidungsträger sind angesichts dieses Dilemmas nicht zu beneiden. Mich interessieren hier nicht so sehr die rationalen Argumente einer kühlen Politik, der Risikoabwägung und Strategie, die alle ihre Berechtigung haben. Eher möchte ich mich mit den Affekten befassen, mit denen diese Argumente ins Spiel gebracht werden, mit den politischen Emotionen, ihrem kulturellen und religiösen Ethos.

Die politische Spaltung zur Geiselfrage und die oben erwähnte Umfrage zeugen von einer kuriosen Situation. Wie kommt es, dass ausgerechnet der traditionellste Diskurs, der auf Maimonides zurückgeht («es gibt kein größeres Gebot als den Gefangenenfreikauf»), zu Recht oder zu Unrecht mit der Linken, der Unterwerfung, der Niederlage und dem diasporischen Bewusstsein gleichgesetzt wird? Und warum lehnt die Gruppe, die doch eigentlich den Gemeinschaftssinn und die religiöse Solidarität an die erste Stelle setzen müsste, Kompromisse vehement ab und setzt auf Sieg, Zerstörung des Feindes und Ehre der Nation?

Es gab Vorzeichen einer solchen Spaltung. Selbst in Israel wurden Plakate von Geiseln heruntergerissen, weil man sie mit emotionaler Erpressung und einer Unterminierung der Kriegsmoral gleichsetzte. Wenige Stunden nach dem Massaker vom 7. Oktober erklärten einige Politiker und Journalisten kaltblütig, wenn man diesen Krieg gewinnen wolle, müsse man die Geiseln ignorieren und nicht ins Kalkül einbeziehen. Solche Ansagen waren nicht nur das Ergebnis spieltheoretischer Überlegungen. Sie hatten einen affektiven oder moralischen Unterton, der unüberhörbar war oder zumindest mich frappierte: eine Verachtung, eine regelrechte Abscheu gegenüber den Geiseln und ihren Familien, kaum versteckt hinter kategorischen Prinzipien und rituellen Mitleidsbekundungen.

Der heftige Kontrast zwischen dieser martialischen Verachtung und einem, wie mir scheint, aus zweitausend Jahren Exil und einer gemeinsamen Tradition heraus entstandenen Gemeinschaftsgefühl verlangt nach Erklärungen. Eine erste Spur liegt in einem offensichtlichen Anachronismus. Die Frage des Freikaufs von Geiseln und Gefangenen begleitete die jüdische Geschichte seit der Politik der Exilierung und Deportation, die die Imperien dem Volk des eroberten Landes Israel aufzwangen. Man könnte meinen oder hoffen, dass das jüdische Volk solche Qualen überwunden hat, seit es im 20. Jahrhundert seine Souveränität in Israel neu etablierte. Dem ist nicht so. Die jüngste Geschichte des Staats Israel ist durchkreuzt von Geiselnahmen und Erpressungen seiner Feinde, die erbeutete Menschen oder menschliche Überreste als Verhandlungsmasse einsetzten.

In dieser scheinbaren Kontinuität treten Unterschiede zutage. Eine Situation im Exil, in der Juden keinen Beschützer hatten und ihre Tradition des Geiselfreikaufs sie zum perfekten Ziel von Feinden, Räubern und Sklavenhaltern machte, ist kaum mit der heutigen zu vergleichen. Im ersten Fall ist der Freikauf von Geiseln eine gemeinschaftliche und transnationale Angelegenheit, im zweiten eine Frage der nationalen Strategie und Staatsräson.

Diese Differenz legt mehr offen als eine politische Debatte in Kriegszeiten. Sie zeigt eine grundlegende Spannung in der modernen jüdischen Politik, die weit in die Traditionen zurückgreift. Die Debatte ist existenziell: für die Geiseln, aber auch für den jüdischen Staat selbst. In dieser Hinsicht gesellt sich die neue politische Spaltung zu der ebenso grundlegenden Auseinandersetzung über die berüchtigte Justizreform, die das Land im vergangenen Jahr bewegte. Der jüdische und zugleich demokratische Charakter des Staats steht abermals auf dem Spiel.

Was können wir über die Frage der Geiseln aus dem jüdischen Denken und der halachischen Tradition lernen und was nicht? Wie werden traditionelle Muster im aktuellen politischen Diskurs mobilisiert, untergraben und manchmal missbraucht? Und was verraten uns die Positionen der gegenwärtigen israelischen «Stämme» über ihre Einstellung zur Territorialität, zum Zusammenhalt des Volkes, zum diasporischen Bewusstsein und zur staatsbürgerlichen Moral?

Das römische Recht des postliminium

Um diese Fragen zu erörtern, ist es nützlich, sich das römische Recht vor Augen zu führen. Das römische Ethos hatte einige Schichten des alten rabbinischen Rechts beeinflusst, wurde aber nach und nach von einer Rechtsprechung abgelehnt, die sich an einer fortgesetzten Praxis orientierte: Die Juden haben ihre Geiseln als gemeinschaftliche Verpflichtung immer wieder freigekauft. Was ich als Wiederaufleben des römischen Ethos in einigen Teilen des rechten religiösen Zionismus verstehe, wäre demnach weniger ein äußerer Einfluss als eine Wiederkehr des Verdrängten.

Im römischen Recht definierte das sogenannte postliminium den Status derer, die nach einem Aufenthalt beim Feind in ihre Heimat zurückkehrten. Das Recht veränderte sich im Laufe der Geschichte, aber der wesentliche Punkt lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Geriet ein Römer in Gefangenschaft und verließ das vom Imperium kontrollierte Gebiet, galt er als versklavt und für seine Stadt als tot. Dieser Tod war aber nicht unumkehrbar. Kehrte der Gefangene zurück, galt er «als nie gefangen genommen, als nicht vorher gestorben»1, was kuriose erbrechtliche Folgen nach sich zog. Ein aus der Gefangenschaft zurückgekehrter Familienvater profitierte so grundsätzlich von allen Vermögenszuwächsen, die seine Sklaven oder Söhne in der Zwischenzeit erzielt hatten.

Der Status der Söhne ist aufschlussreich. Sie waren von der potestas ihrer Väter befreit, sobald diese unter die potestas des Feindes gerieten. Es war, als gäbe es eine logische Unmöglichkeit, einerseits unterworfen zu sein und anderseits andere zu unterwerfen. Unter der potestas des Feindes zu stehen, widersprach dem Status des römischen Bürgers. Diese hierarchische und aristokratische Auffassung prägt den Begriff der Staatsbürgerschaft als dignitas.

Der Gefangenenfreikauf galt den Römern zwar als eine Pflicht der pietas, vergleichbar mit der Aufforderung, seine Eltern oder Kinder nicht verhungern zu lassen. Als universelles und gemeinschaftliches Gebot der Nächstenliebe wurde er aber erst im 3. Jahrhundert von den Christen und vor allem den Apologeten und Kirchenvätern formuliert. Cyprian, Bischof von Karthago, schreibt Mitte des 3. Jahrhunderts: «Daher müssen auch wir jetzt die Gefangenschaft der Brüder als die unsrige ansehen und den Schmerz der Gefährdeten als unseren Schmerz betrachten; denn wir sind ja doch zu einem Leib vereinigt, und nicht nur die Liebe, sondern auch die Frömmigkeit muß uns dazu anspornen und stärken, die Glieder der Brüder loszukaufen.» (62. Brief)2

Ein neues moralisches und affektives Paradigma zeichnet sich ab, das Paradigma einer religiösen, nicht räumlich beschränkten, allein der Glaubensgemeinschaft verpflichteten Zusammengehörigkeit. Das Gefühl der Scham oder Verachtung, das für das postliminium kennzeichnend war, wird durch Mitgefühl und Barmherzigkeit ersetzt. Dieses Paradigma ähnelt dem, das sich parallel bei den jüdischen Weisen und durchgehend in der gesamten jüdischen Rechtsgeschichte zeigt: Brüderlichkeit hängt nicht von einem Territorium ab, sie erlischt nicht durch räumliche Entfernung und ist nicht an Freiheit oder Sieg gebunden. Selbst unter der Herrschaft des Feindes bleiben die unsrigen unsrige.

Unterstützen Sie Berlin Review
Abonnieren Sie uns schon
ab 6 € / Monat

Abos ansehen

Der Gefangenenfreikauf im rabbinischen Recht

Die Mischna stellt im Traktat Gittin (IV, 6) Regeln auf, die, wie sich daraus selbst ablesen lässt, nicht dem strengen Recht unterliegen, sondern rabbinischen Vorschriften, die den guten Lauf der Welt bewahren sollen. Hier ist auch eine Preisgrenze für den Gefangenenfreikauf festgelegt: «Wer seinen Sklaven an Heiden oder außer Landes [Israel] verkauft, geht (dies)er als freier Mann aus. […] Nicht löst man Gefangene über ihren Wert aus – der Ordnung der Welt wegen [tiqqun olam]. […] Nicht kaufe man Bücher oder Gebetsriemen oder Türkapseln von den Heiden über ihren Wert – der Ordnung der Welt wegen [tiqqun olam].»1

Das Konzept des tiqqun olam, das derzeit besonders im englischsprachigen progressiven Judentum als ethische Aufforderung beliebt ist, die Welt zu «reparieren» und von jeglicher Ungerechtigkeit zu befreien, hat hier eine ganz andere Bedeutung und steht sogar im Gegensatz zu dieser weichen ethischen Interpretation. Es wird als ratio legis eingeführt, begründet aber vor allem einen behutsamen Konservatismus in Bezug auf die Ungerechtigkeiten der Welt. Wenn eine durch das Gute motivierte Handlung (Kauf einer Torarolle um jeden Preis, Hilfe eines Gefangenen bei der Flucht) einen negativen Effekt auf den normalen Lauf der Dinge haben kann, ist es besser, sie nicht zu verfolgen.

Mit dieser Passage, die eine Verpflichtung zum Gefangenenfreikauf als gegeben voraussetzt, ihr aber zugleich eine Grenze setzt, situiert sich die Mischna, wie so oft, mitten in einer Debatte. In der Bibel gibt es keine Stelle, die den Freikauf von Sklaven vorschreibt. Die Mischna geht von einer solchen Vorschrift einfach aus. Die historische und doktrinelle Entwicklung der Halacha verbietet es jedoch einmal mehr, diese Mischna nur abschnittsweise oder losgelöst von ihrem Kontext zu zitieren. Ihre Geschichte ist die Geschichte der Versuche, die von ihr festgesetzte Grenze zu neutralisieren oder zu überschreiten.

Bereits im babylonischen Talmud, der die Mischna kommentiert und erklärt, führen die Weisen einen Sonderfall ein, in dem sehr wohl ein Freikauf «um jeden Preis» erfolgte. Die Rolle dieser Anekdoten besteht oft darin, die Regel zu kritisieren oder zu untergraben. Nachdem die beiden möglichen Rechtfertigungen für die Preisgrenze dargelegt wurden – eine bezogen auf die Umverteilung des Gemeinguts, die andere auf die Anreizwirkung, die eine fehlende Preisgrenze hätte2 –, erzählt die Gemara eine Geschichte: «Komm und höre: Levi b. Darga löste seine Tochter um zwölftausend Golddenare aus. Abbajje erwiderte: Wer sagt uns, daß er dies mit Billigung der Weisen tat, vielleicht tat er dies ohne Billigung der Weisen.» (Gittin 45a:16)

Die Geschichte (aggada) ist wie alle Geschichten personalisiert. Erzählt wird von einem Menschen mit einem Namen, der nicht eine anonyme Gefangene, sondern seine eigene Tochter freigekauft hat. Die Individualisierung und emotionale Verstrickung machen die Abweichung von der Regel nachvollziehbar. Ein paar Seiten später (Gittin 58a) bekräftigt die Gemara ihre Aussage, diesmal mit der Erzählung eines Rabbiners, der einen schönen, intelligenten, in der Tora bewanderten Jungen zu einem unerhörten Preis freizukaufen. Diese Erzählungen wurden von späteren Kommentatoren und Entscheidungsträgern als rechtliche Einwände interpretiert.

Die französischen Tossafisten des Mittelalters, die diese Passagen des Talmud in ihrer üblichen Gründlichkeit kommentieren, ergänzen die Mischna-Regel um eine Reihe von so umfassenden Ausnahmen, dass sie sie ihrer Tragweite praktisch vollends berauben: «Für den Geldbetrag, den sie verlangen, (war er gesetzlich dazu berechtigt,) denn wenn es eine Bedrohung für das Leben gibt, kaufen wir die Gefangenen für einen Betrag frei, der ihren Wert übersteigt.» Von dieser Position aus ist es kein weiter Weg zur Aussage des Nachmanides, dass jeder Gefangene per Definition in Lebensgefahr sei, und dieser kurze Weg sorgt dafür, dass Gefangene im Laufe der jüdischen Geschichte zu exorbitanten Preisen freigekauft wurden.

Bei Maimonides, der das jüdische Recht in seinem enormen Werk kodifiziert, tritt an die Stelle der fehlenden biblischen Quellen in dieser Frage ein emotionales, entschiedenes Plädoyer: «Der Freikauf der Gefangenen hat Vorrang vor dem Lebensunterhalt der Armen und der Bereitstellung von Kleidung. Es gibt keine größere Mizwa als den Gefangenenfreikauf. Denn ein Gefangener gehört zu denen, die hungrig, durstig und unbekleidet sind, und ein Gefangener ist in Lebensgefahr.»3

Die Geschichte des Freikaufs jüdischer Gefangener hat eine materialistische Seite: So sind die Archive und die Genizot mit Briefen gefüllt, die um Geld bitten, um diesen oder jenen Juden, manchmal am anderen Ende der Welt, freizukaufen. Bekannt sind auch prominente Fälle wie der des Talmudisten und Rabbiners Meir von Rottenburg, genannt Maharam von Rottenburg (1215–1293), der von Kaiser Rudolf I. von Habsburg entführt wurde und sich sein ganzes Leben lang dagegen wehrte, dass die jüdische Gemeinde ihn freikauft. Dieser Fall endete ungut: Nach seinem Tod in Gefangenschaft bezahlte die Gemeinde schließlich doch eine enorme Summe, um seine sterblichen Überreste zu bergen und ihn nach traditionellem Ritus zu begraben.

Exilgesetze vs. politische Souveränität

Die bisher diskutierten Fälle von Freikauf in der jüdischen Tradition entsprechen einem Leben im Exil. Immer ging es dabei um Lösegeldzahlungen, nie um einen Austausch von Gefangenen oder um Verhandlungen im Kriegskontext. Das ist ein erheblicher Einwand gegen ihre Relevanz für die heutige Situation. Für die Gefangenen in Gaza gibt es aber Präzedenzfälle in der jüngeren israelischen Geschichte. Während der Entebbe-Affäre fragte der Premierminister Jitzchak Rabin die Oberrabiner Israels, wie ein Gefangenenaustausch aus halachischer Sicht zu bewerten sei, bevor eine (erfolgreiche) Befreiungsaktion durchgeführt wurde. Nachdem der Soldat Gilad Schalit gegen 1.000 palästinensische Gefangene ausgetauscht wurde, veröffentlichte der orthodoxe Rabbiner Israel Rozen eine Response, die den Ermessensspielraum der Politik eindeutig über die religiöse Rechtsprechung stellte. Wenn ein Freikauf nicht finanziell erfolge, schreibt er, sondern «durch den Freikauf von Gefangenen im Gegenzug für die Freilassung von sehr vielen Terroristen, ist die Halacha meiner Meinung nach neutral und überlässt die Entscheidung dem taktischen Ermessen der souveränen Staatsoberhäupter (…) In Sachen der Regierungspolitik genießt das [weltliche] ‹Reich› umfassende Handlungsfreiheit».1

Mit dieser Stellungnahme setzt Rabbiner Rozen, der eigentlich zionistisch-religiös ist, ein exiljuristisches Schema im Staat Israel fort. Der jüdische Rechtspluralismus erkannte, dem Prinzip dina de-malchuta dina folgend (das Gesetz des Landes ist Gesetz), in bestimmten Bereichen stets die Gültigkeit der Gesetze des weltlichen «Reichs» an. Das jüdische Gesetz verbietet den Austausch von Gefangenen nicht, verpflichtet aber auch nicht dazu. Ein solcher Austausch ist daher anhand rationaler, politischer und strategischer Kriterien zu prüfen.

Waren alle Überlegungen also letztlich unnötig? Nicht ganz. Unabhängig von praktischen und zwingenden Schlussfolgerungen über den Freikauf von Geiseln hat die jüdische Tradition ein Ethos geschaffen, ein religiöses, politisches und soziales Empfinden, das eng mit den Kernideen von Solidarität, Gemeinschaft und Verantwortung zusammenhängen. Es kann durchaus sein, dass wir heute einen Wandel dieser Begriffe beobachten. Wenn die entscheidenden Stimmen des jüdischen Rechts dem Staat und der Regierung auch ein weiten Ermessensspielraum lassen, so ist damit nicht gesagt, dass diese Werte und Traditionen die Entscheider vollkommen unberührt lassen.

Wiederkehr des verdrängten römischen Rechts

Kehren wir zur aktuellen politischen Frage zurück: Wie ist das Wiederaufleben «römischer» Diskurse in den Polemiken um die Geiseln und die Abkehr von einer jüdischen Mentalität zu erklären, die doch in Jahrhunderten des Schrifttums und des Brauchs verwurzelt ist? Meine Hypothese lautet: Wenn der Trend, der derzeit in seiner gröbsten Gestalt noch eine Mindermeinung darstellt, als «römisch» bezeichnet werden kann, dann vor allem, weil er sich sehr bewusst antichristlich gibt. Die Ablehnung von allem, was im engeren oder weiteren Sinne einem «christlichen Wert» ähnelt, prägt den religiös-zionistischen Mainstream. Universelle moralische Ansichten werden oft als störend für den rechtschaffenen Geist, als Charakterschwächen und als Fremdeinflüsse auf eine vermeintlich «jüdische» Werteskala angesehen.

Auf der rechten Seite der Spaltung überlagert sich eine übermäßige Bedeutung, die dem Land, den Grenzen, der nationalen Ehre (kavod leumi) und dem kriegerischen Stolz beigemessen wird, mit einer bereits fest verankerten Ablehnung des schwachen Exiljuden. Ein Gefühl der Verachtung und Ablehnung für die Schwachen kann dann aufkeimen, und die Geiseln, mit denen die Hamas uns in die Knie zwingt, erscheinen wie eine Bruchstelle, die uns wieder zu Exiljuden macht. Da die Rechte die Position der Schwäche verabscheut – zu Recht, denke ich, denn man muss niemals verfolgt worden sein, um eine derart verletzliche Position zu verherrlichen –, verabscheut oder beschuldigt sie die Geiseln und ihre Familien, was meiner Meinung ein grober moralischer und intellektueller Fehler ist. Die Konstruktion einer religiösen Identität auf der Gegnerschaft zu einer angeblich christlichen Moral und diasporischen Position der Schwäche verdeckt unsere eigene Tradition und führt uns zu einer imperialen Moral, die unsere Weisen nicht ausstehen konnten.

Wie können wir also in einem so schwierigen Umfeld die jüdischen Werte der Verbundenheit und des Mitgefühls gegenüber den Geiseln bewahren? Ein tannaitischer Text aus dem Avot De-Rabbi Natan (8:5)2 bietet eine erschütternde Analyse und schlägt eine Antwort vor: «Wenn zwei Menschen zusammensitzen und sich der Tora hingeben, mehrt sich ihre Belohnung hoch oben – es steht geschrieben (Maleachi 3:16): ‹So redeten die Gottesfürchtigen untereinander. Der HERR merkte auf und hörte es›. Und wer sind diese Gottesfürchtigen? Es sind jene, die öffentlich erklären: Wir müssen die Eingesperrten befreien und die Gefangenen loskaufen. Dann kümmert sich der Heilige, gesegnet sei Er, um ihre Belange, und sie sind in der Lage, es sofort zu erreichen. Und wer sind jene, die ‹an seinen Namen gedenken› (Ende von Maleachi 3:16)? Es sind die Menschen, die still in ihrem Herzen denken: Wir sollten die Eingesperrten befreien und die Gefangenen loskaufen. Der Heilige, gesegnet sei Er, sorgt nicht dafür, und ein Engel kommt und lässt sie am Boden zerschellen.»

In diesem Text fordern die wahren Leser der Tora öffentlich, dass Eingesperrte freigelassen und Gefangene losgekauft werden müssen. Ihr Wunsch wird erhört. Die anderen, die der Engel, wie es heißt, am Boden zerschellen lässt, sind im Stillen zwar derselben Überzeugung. Aber sie lassen den Einsatz für ihre Ideen vermissen. Wer entschlossen, entschieden und aktiv ist, wird mit einer göttlichen Antwort belohnt. Wer in sich verschlossen und im Stadium des frommen Gebets verbleibt, zerschellt. Das könnte also ein Anfang sein: die politischen Ziele offen in die Mitte der Agora tragen.

Anm.:
  1. www.axios.com/2024/04/24/hamas-hostage-video-qatar-hersh-goldberg-polin. Seither wurde ein weiteres Video veröffentlicht und neue Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel sind unter Vermittlung der USA, Ägyptens und Israels im Gang.
  2. Yann Rivière, „Captivité et Retour de Captivité dans la Rome Impériale“, in: Les Cahiers du Centre de Recherches Historiques 42 (2008), S. 209–223, zitiert nach journals.openedition.org/ccrh/3446.
  3. Caecilius Cyprianus, Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Briefe, aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Julius Baer, München: Verlag Josef Kösel und Friedrich Pustet, 1928, S. 251.
  4. Gittin: Scheidebriefe, Text, Übersetzung und Erklärung nebst einem textkritischen Anhang von Dietrich Correns, Berlin/New York: De Gruyter, 1991, S. 79.
  5. Der babylonische Talmud, neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt, Band 6: Sota, Gittin, Qiddusin, Berlin: Biblion, 1932, zitiert nach www.sefaria.org(im Folgenden: Gittin), 45a:16. Vor den Weisen kam ein Dilemma auf: Rührt der Ausdruck «tiqqun olam» vom finanziellen Druck der Gemeinde her? Oder kommt er davon, dass sie keine anderen Gefangenen nehmen und entführen werden?
  6. Maimonides, Mischne Tora, Die Armenspende, Kapitel 8, Gesetz 10.
  7. Rabbiner Israel Rozen, «Freikauf von Gefangenen zu einem überhöhten Preis Geldes, das nicht mein eigenes ist», in Tehumin 30 (2009).
  8. Eine Art Midrasch über die Sprüche der Väter, der in den kleinen Talmudtraktaten enthalten ist.
Bio:
Noémie Issan-Benchimol ist eine französisch-israelische Kritikerin, Philosophin und Religionswissenschaftlerin. Sie lebt in Jerusalem. [Mehr lesen]