Am 24. April befanden sich die 133 israelischen Geiseln 200 Tage lang in Gefangenschaft. An diesem Tag veröffentlichte die Hamas ein undatiertes Video, das den jungen israelisch-amerikanischen Gefangenen Hersh Goldberg-Polin lebendig, aber abgemagert zeigt. Sein Arm wurde amputiert, wahrscheinlich infolge einer Granatenexplosion am 7. Oktober. Nach Recherchen des Nachrichtenportals Axios wurde das Video bereits einige Tage zuvor an die USA übersandt, um für die Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln guten Willen zu demonstrieren.1

Diese Bilder mochten den Angehörigen und allen, denen das Schicksal der Geiseln am Herzen liegt, Hoffnung geben, ihre strategische Wirkung ist jedoch zweischneidig: Sie sind Teil einer psychologischen Kriegsführung, und frühere Ereignisse lassen befürchten, dass die Hamas als nächstes den Tod von Goldberg-Polin durch Hinrichtung oder durch israelische Bombardierung verlautbaren könnte, um Israel weiter von innen zu destabilisieren und den Druck auf die Netanjahu-Regierung zu erhöhen.

Die Proteste gegen diese Regierung, die einige in Israel inzwischen «Regierung des Bluts» nennen (memshelet hadamim), haben sich auf die Frage der Geiseln konzentriert. Je mehr über Benjamin Netanjahus nahezu kategorische Ablehnung eines Abkommens mit der Hamas bekannt wird, desto mehr Zulauf erhalten die Demonstrationen. Man sollte es sich jedoch nicht zu leicht machen und dem Regierungschef eine Art exklusive Böswilligkeit unterstellen: Die Hamas und ihr Anführer Yahya Sinwar, der über die Verhandlungen letztlich entscheidet, haben immer wieder inakzeptable Forderungen an Israel gestellt.

Bis heute ist nicht bekannt, wie viele der Hamas-Geiseln noch am Leben sind. Da die Geiselnehmer sich weigern, Namenslisten herauszugeben, bleibt die Befürchtung, die meisten seien bereits tot. In Israel selbst spielt sich ihre Tragödie in zweierlei Hinsicht ab: Eine Reihe von sträflichen Versäumnissen von Geheimdienst, Militär und Politik haben die Angriffe des 7. Oktobers erst möglich gemacht, und in einer paradoxen Umkehrung der Situation leiden die Geiseln nebst ihren Familien und Unterstützern nun selbst unter dem Vorwurf, die Einheit des Volkes zu untergraben und unmögliche Zugeständnisse zu fordern.

Die propalästinensischen Bewegungen außerhalb Israels erwähnen die Geiseln nur selten oder stellen sie im Verhältnis zu den Tausenden von Gaza-Toten als vernachlässigbar dar. Schlimmer noch, sie gelten oft als Elemente der Hasbara, der israelischen Propaganda, und seien allein aufgrund ihrer Eigenschaft als «Siedler» schon schuldig. Eigentlich sollte ihr Schicksal wie das der unschuldig bombardierten palästinensischen Zivilisten eine rein menschliche Angelegenheit sein, doch die israelischen Geiseln sind zur Konfliktpartei geworden, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes. Doppelte Einsamkeit und doppelte Strafe. Auf die Situation innerhalb Israels möchte ich im Folgenden eingehen.

Die besten Texte in Ihrem Postfach
Unser kostenloser Newsletter

Newsletter-Anmeldung