Wir sehen uns im AugustGabriel García Márquez übers. v. Dagmar Ploetz
Kiepenheuer & Witsch März 202423 € 144 S.

Am 9. März komme ich in Quito an, die Semesterferien haben gerade begonnen, und wie immer, wenn ich kann, fahre ich hin, um meine Mutter zu besuchen. Diesen Juni wird sie 95 Jahre alt. Sie ist bei guter Gesundheit, hat ein wenig an Beweglichkeit eingebüßt und verliert sich ab und an in den labyrinthischen Gängen des Gedächtnisses. Aber sie spielt vier, fünf verschiedene Kartenspiele, Scrabble, Mensch ärgere Dich nicht, und erfreut sich an vielem, was ihr das Leben noch gewährt.

Am Montag, den 11. März, machte ich mich auf den Weg zu «Rayuela», meiner Lieblingsbuchhandlung in Quito, um dort Gabriel García Márquez’ letzten, posthumen Roman zu kaufen. Wir sehen uns im August hatte auch deshalb besonderes Aufsehen erregt, weil der Autor das Manuskript für den Papierkorb bestimmt hatte. Am 6. März wurde es als Buch veröffentlicht, in vielen Ländern und Sprachen gleichzeitig.

Jedes Jahr nach der Seminarlektüre von Hundert Jahre Einsamkeit nehme ich meine Studierenden aus Austin mit ins Harry Ransom Center, damit sie den Nachlass des kolumbianischen Schriftstellers kennenlernen. Schon oft hatte ich dort das Manuskript von Wir sehen uns im August gesehen, aber nie die Zeit gehabt, mich hinzusetzen und es zu lesen. Der Aufruhr um die Veröffentlichung löste ein Déjà-vu bei mir aus, ich fühlte mich ins Jahr 2014 zurückversetzt, als bekannt wurde, dass der Nachlass ins Harry Ransom Center nach Texas kommen würde.

Im November 2014 kam die Meldung auf der Titelseite der New York Times und wurde umgehend von den Zeitungen in aller Welt aufgegriffen. Die sozialen Medien glühten. Es wurde behauptet, die Angehörigen hätten die lukrativsten Angebote sondiert, und weil die Gringos besser zahlten, seien Kolumbien und Mexiko erwartungsgemäß leer ausgegangen. Man raunte, die Texaner hätten sogar einige Ivy-League-Unis ausgestochen und welche Schande es für das lateinamerikanische Kulturerbe sei, dass der Nachlass von García Márquez of all places in Texas lande! Für einige von uns war die Ansiedelung der Manuskripte hier an der Universität jedoch mit einer Reihe von Bequemlichkeiten verbunden. Nicht nur, weil sie von nun an nicht weiter als einen Steinwurf von unseren Büros entfernt waren, sondern auch, weil wir zu Komplizinnen eines in akademischen Gefilden einmaligen Prozesses wurden.

Die Woche meines Besuchs daheim verlief ohne größere Zwischenfälle. Bedächtige Vormittage, an denen sich meine Mutter ihre Messe auf YouTube anhörte, familiäre Mittagessen mit Brüdern und Schwestern, Nichten und Neffen, die Platz in ihrem vollen Terminkalender geschaffen hatten, Mittagsschläfchen mit ihr, Nachmittage voller Kartenspiele und noch mehr Besuchen von allen möglichen Familienmitgliedern. Am Freitagmorgen, den 16. März, einen Tag vor meiner Rückreise, las ich meiner Mutter den Roman vor. Einmal im Jahr besucht die Protagonistin Ana Magdalena Bach ihre Mutter und bringt ihr einen Strauß Gladiolen ans Grab, das auf einem Armenfriedhof einer kleinen Karibikinsel mit Aussicht auf die Lagune liegt. Auf jeder dieser Reisen verbringt Ana Magdalena, eine Frau mittleren Alters, eine Nacht mit einem anderen Mann.

Ausgerechnet Texas

Ein paar Monate nach dem Tod von García Márquez hatte Charlie Hale, der damalige Leiter des Instituts für Lateinamerikastudien, eine Gruppe von Literaturprofessor:innen zusammengerufen, um uns mitzuteilen, dass der Nachlass des Nobelpreisträgers ins Harry Ransom Center kommen würde. Es handelte sich, so Charlie, um eine brisante, und deshalb streng vertrauliche Information. Plötzlich empfanden die wenigen versammelten Kollegen sich als Teil von etwas Größerem. Die Literatur würde auf der Titelseite der New York Times Schlagzeilen machen, und wir waren es, die, noch vor allen anderen, in das Geheimnis eingeweiht wurden. Verschwiegenheit war auch deshalb geboten, weil noch nicht alle Einzelheiten des Kaufvertrags geklärt waren. Uns fiel die Aufgabe zu, eine feierliche Veranstaltung zur Aufnahme des Nachlasses vorzubereiten, um das vielschichtige intellektuelle Vermächtnis von García Márquez zu würdigen.

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Wie es weiterging, ist bestens bekannt. Glenn Horowitz, der New Yorker Agent der Familie, hatte Steve Enniss angerufen, den damaligen Direktor des Harry Ransom Center, und ihn gefragt, ob er sich die Kartons einmal ansehen wollte. Ein paar Monate später reisten Steve und José Montelongo, der damals die ebenfalls an der University of Texas angesiedelte Benson Latin American Collection leitete (es ist die größte Bibliothek für Lateinamerikastudien der USA), nach Mexiko, um das Material zu sichten. Ein Angebot wurde gemacht, das Archiv wurde erworben. Der Skandal nahm seinen Lauf.

Ich las meiner Mutter den Roman in zwei Zügen vor. Die ersten drei Kapitel am Vormittag. Darin kommt es zu Ana Magdalenas erster amouröser Begegnung mit einem Fremden. Die Erotik der Vereinigung, die sich in derselben Nacht mehrmals vollzieht, wetteifert mit den poetischen Beschreibungen von Ana Magdalenas Überfahrt mit der Fähre. Hatte ich erwähnt, dass meine Mutter Nelly Magdalena heißt? Sie hatte diesen zweiten Vornamen nie gemocht und vermieden, ihn der Öffentlichkeit preiszugeben. Jetzt sagte sie: Die erotischen Szenen konkurrieren mit den wunderschönen Beschreibungen des Meers, den Reihern in der Lagune, dem Gesang der Vögel und den Momenten, in denen sich Ana Magdalena im Spiegel betrachtet und feststellt, wie brutal die Zeit verstreicht. Nelly Magdalena hörte mir zu, gebannt, entrückt und mit einem fragilen Lächeln, von dem ich nicht sagen konnte, was es bedeutete: Wehmut angesichts meiner zu kurzen Verweildauer in dieser einen Märzwoche – oder Freude über die Farben des Himmels, die García Márquez in Ana Magdalenas Augustmonate hineinmalte.

In den Wochen nach der Bekanntgabe, dass eine texanische Universität den Nachlass gekauft hatte, nahm der Skandal weiter an Fahrt auf. Jemand kaum auf die Idee, die Preisgabe der Kaufsumme zu verlangen, und da die University of Texas eine öffentliche Einrichtung ist, blieb ihr keine andere Wahl, als der Bitte nachzukommen. Der Betrag belief sich auf 2,2 Millionen Dollar. Trotz dieser Summe, die Kenner des Marktes übrigens nicht überzogen vorkam, ließen die Kritiker keine Ruhe.

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Besucherrekorde in Bogotá

In Bogotá fand im März desselben Jahres die Buchmesse statt. Spanien hatte seine Teilnahme aufgrund der Wirtschaftskrise Monate vorher abgesagt und die Organisatoren kurzerhand beschlossen, Macondo als Gast-«Land» nachzunominieren.

Es war ein Fest. Das Messegelände wurde zum García-Márquez-Dorf, vor der Kulisse eines Hühnerstalls fanden die wichtigsten Buchvorstellungen statt, an den Ständen verschenkte man winzige Goldfische, in einer Ecke waren ein Zelt im Gitano-Stil aufgebaut und dazu eine Daguerreotypie-Kamera, eine Lupe, ein Magnet und all die anderen Apparaturen ausgestellt, die José Arcadio Buendía in Hundert Jahre Einsamkeit in den Wahnsinn treiben. Nur drei Monate hatten die Bogotanos gebraucht, um dieses Prachtwerk zusammenzustellen, das der Messe einen Besucherrekord bescherte.

José und ich waren eingeladen, um über den Nachlass an der University of Texas in Austin zu sprechen. Am Morgen nach unserer Ankunft trafen wir mit Consuelo Gaitán zusammen, der Leiterin der kolumbianischen Nationalbibliothek, der wichtigsten Einrichtung ihrer Art in Lateinamerika. Zaghaft betraten wir das monumentale Gebäude an der Kreuzung von Carrera 5 und Calle 24. Man ließ uns ein und bedeutete uns, im Aufzug nach oben ins Büro der Direktorin zu fahren. Nach einer frostigen Begrüßung trug uns Gaitán im Ton der Entrüstung ihre Beschwerde vor: «Warum bin ich nicht informiert worden? Ich hätte Bescheid wissen müssen!». Nach der Schlagzeile in der New York Times habe sie zahlreiche Anrufe erhalten, von denen nicht wenige ziemlich bedrohlich gewesen seien. Man warf ihr vor, erzählte sie, ihre Arbeit nicht richtig zu machen, wenn sie nicht einmal in der Lage sei, den Nachlass unseres Nobelpreisträgers dort aufzubewahren, wo er hingehörte.

José und ich erzählten ihr etwas, was sie so noch nicht wusste. Entschieden hatte allein die Familie. Mehr noch, allein der Autor. Denn das Harry Ransom Center beherbergt Manuskripte von Autoren, die García Márquez verehrte: Hemingway, Joyce, Faulkner, Woolf, Borges. Was konnte falsch an dem Entschluss sein, die Unsterblichkeit im Kreise seiner Lieblingsautoren genießen zu wollen?

Ich konzentrierte mich darauf, langsam und im richtigen Tempo zu lesen, damit Nelly Magdalena sich nicht in den Umtrieben ihrer Beinah-Namensvetterin verlor. Wie im Leseunterricht in der Grundschule stimmte ich jedes Wort einzeln an und imitierte die Intonation von Schauspielern, um die Figuren zum Leben zu erwecken. Ab und an unterbrach mich mamá und fragte, noch immer mit einem Lächeln, das jetzt zwischen verschmitzt und misstrauisch schwankte: Aber sie ist doch verheiratet, oder etwa nicht?

Im April 2015 wurde der Nachlass in Austin feierlich in Empfang genommen. Es kamen: die Familie des Autors, seine Frau Mercedes, die Söhne Gonzalo und Rodrigo, seine Enkelkinder, ein paar seiner Brüder, Schwager, Neffen und Nichten. Es war ein emotional und intellektuell aufwühlender Abend. Salman Rushdie eröffnete ihn mit einer Keynote, die das Harry Ransom Center später unter dem Titel Gabo and I herrlich broschiert herausgab, mit einem Porträt des Autors in Aquarellfarben und typografisch gestaltet von seinem Sohn Gonzalo.

Am nächsten Tag gab es Vorträge zu den Themengebieten, die García Márquez geliebt und beeinflusst hatte: Kino, Literatur, Journalismus, Politik, das intellektuelle Leben in Lateinamerika. Den Schlusspunkt setzte Elena Poniatowska mit einem bewegenden Vortrag. Kerzengerade stand sie auf der Bühne des Blanton Museums und trug dabei einen gelben Morgenmantel, den sie, wie sie erzählte, zusammen mit ihrer Assistentin Martina selbst genäht hatte, um das Andenken ihres Freundes in dessen Lieblingsfarbe zu ehren.

Monate später reiste ich zum Festival der Fundación Gabo nach Medellín. Jaime Abello hatte mich eingeladen, um über die Ankunft des Nachlasses in Texas zu sprechen. Bei der Gelegenheit lernte ich ein paar Dozenten der Stiftung kennen, die gute Freunde von García Márquez waren. Nach drei Tagen reiste ich wieder ab, überwältigt von der Herzlichkeit, mit der sich seine Freunde an ihn erinnerten. Drei Tage voller nostalgischer Erinnerungen, mehr noch als seinem Genie gedachten wir seiner sanftmütigen Seele.

Der Rest der Erzählung

Am Abend – nach Mittagessen und Siesta, nach drei Partien Scrabble mit meiner Schwägerin, einer weiteren mit meinem später hinzugestoßenen Bruder, dem unausweichlichen Nachmittagskaffee mit den beiden, meinem Neffen, dem Ehemann meiner Cousine und dessen Sohn, der erweiterten Familie also, die sich gerne um meine Mutter schart – lasen wir die zweite Hälfte. Nelly Magdalena war müde vom Gezappel der Brettspiele, den Unterhaltungen, die wie Hubschrauber von ferne über ihr kreisten und deren Knattern sie liebte, weil es die Stille des Alleinseins vertreibt. Trotzdem lauschte sie dem Rest der Erzählung.

Ana Magdalena gesteht ihrer Mutter ihre Seitensprünge, und der intime Austausch stärkt das Band der Komplizinnenschaft zwischen den beiden Frauen. Nelly Magdalena blickte mich aus zarten Augen an, und ich las weiter. Ich verlor mich ein wenig in den folgenden Abschnitten, weil ich daran denken musste, was meine Mutter mir wohl sagen wollte. Von ihr hatte ich gelernt, was es heißt, eine Frau zu sein, und ich sehne mich danach, so zu sein wie sie: ihren Sinn für Humor zu haben, ihre Leichtigkeit, mit der sie das Leben genießt. Wonach ich mich hingegen nicht sehne, ist, in ihr Alter zu kommen; es schmerzt mitzuerleben, wie sich auf ihrem Körper die Unbarmherzigkeit der Zeit abzeichnet.

Im Januar 2016 fand in Austin die Tagung der Modern Language Association statt, die wichtigste Zusammenkunft von Literaturwissenschaftler:innen des Landes. Meine kolumbianische Kollegin und Freundin María Elena Rueda und ich waren uns einig, dass es an der Zeit sei, über den Umzug des Nachlasses in Texas zu sprechen. Der Saal war prallvoll, ungewöhnlich für eine Veranstaltung, die auf einer Konferenz dieses Formats von gewöhnlichen Akademikern wie uns organisiert wird. Auf dem Podium saßen Julio Ortega von der Brown University, Héctor Hoyos aus Stanford, Aníbal González aus Yale, María Helena, die am Smith College unterrichtet, und ich. Im Publikum Kolleg:innen aus aller Welt, aus Argentinien, Kolumbien, Chile, Mexiko und weiteren Ländern. Die Diskussion drehte sich um Fragen des kulturellen Erbes und der Archive in Lateinamerika. Naturgemäß kam man auf Nationalistisches zu sprechen: Warum hier, in den USA, und nicht dort, in Lateinamerika? Auch das Tentakel mit dem Namen Kolonialismus ließ sich blicken. Einfache Antworten auf die Frage, warum hier und nicht dort, gab es nicht. Einige sagten, es gebe zwar sehr gut geführte Archive in Lateinamerika, aber diese seien nicht ohne Weiteres zugänglich. Andere gaben zu bedenken, dass leichte Zugänglichkeit eine Institution anfällig für Diebstahl mache.

Unsere Staatsapparate in Lateinamerika behandeln die Kultur stiefmütterlich, und ihre kulturpolitischen Maßnahmen sind durch größte Unzuverlässigkeit charakterisiert. Demnach war man sich sofort einig, dass unser kulturelles Erbe überall vom Aussterben bedroht ist. (Dabei lag der verheerende Brand des Brasilianischen Nationalmuseums in Rio de Janeiro noch in der Zukunft!) Wir erörterten Auswege aus diesem Dilemma und mussten zugeben, dass auch diejenigen, die ihre geistige Arbeit außerhalb ihrer Herkunftsländer leisteten, also wir, Anteil an kolonialen Dynamiken hatten. Andere wiederum insistierten, dass die illustre Nachbarschaft, in die García Márquez mit seinem Nachlass eingezogen war, seinem Selbstbild als Autor der Weltliteratur entsprach. Dort war er, so der Tenor, in Gesellschaft jener, die unabhängig von ihrem Herkunftsort als die Größten galten.

Eine unerhörte Geste

Der Kaufvertrag enthält Sonderklauseln, deren wichtigste besagt, dass die Nachkommen das Urheberrecht am Werk ihres Vaters abtreten – eine für Erben bedeutender Nachlässe höchst ungewöhnliche Entscheidung. Dank dieser Großherzigkeit wurde der Nachlass, nachdem er vom Harry Ransom Center digitalisiert worden war, 2017 für die breite Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht. Mit Ausnahme von Wir sehen uns im August sind alle Romanmanuskripte einsehbar. Für die nun erfolgte Herausgabe dieses bis zuletzt unveröffentlichten Werkes hat der Herausgeber Cristóbal Pera die verfügbaren Manuskriptfassungen gesichtet. Wäre die Digitalisierung, denke ich plötzlich, nicht eine jener Erfindungen gewesen, die Melquíades nach Macondo mitgebracht hätte, um José Arcadio Buendía vorzuführen, dass nunmehr jedes fernab vom «brütenden Sumpfland» entstandene Sprachwerk der Welt auf einem gläsernen Bildschirm gelesen werden kann?

Dass die Erben mit der Veröffentlichung von Wir sehen uns im August besonders geldgierig gehandelt haben sollen, scheint mir ein kleingeistiger Vorwurf. Ihre Großzügigkeit bei der Abtretung der Urheberrechte ist beispiellos. Es wird sich immer jemand finden, der den Erben von García Márquez einen Fehler nachweist. Entscheidend ist, dass das Werk selbst für alle zugänglich wurde.

Álvaro Santana-Acuña, der Kurator der im Februar 2020 im Harry Ransom Center eröffneten Ausstellung des archivo GABO, hat daran erinnert, dass María Kodamas Wachen über das Werk von Jorge Luis Borges, ihr geiziger Umgang mit den Urheberrechten und ihre Unentschiedenheit darüber, wo die Manuskripte aufbewahrt werden sollten, kaum zu deren Erhalt und noch weniger zu ihrer zeitnahen Zugänglichkeit beigetragen haben. Auch der Nachlass von Carmen Balcells, der großen Agentin des Booms, ist noch unsortiert, und das kostbare Material, das der spanische Staat vor mehr als zehn Jahren erwarb, harrt in den Kisten.

Seit der Ankunft des García-Márquez-Archivs in Austin setze ich mich dafür ein, dass die jüngeren Generationen von seiner Existenz an unserer Universität erfahren. Jeden Herbst lese ich mit meinen Erstsemestern Hundert Jahre Einsamkeit. Das Seminar ist eine Wahlveranstaltung, die sich die Studierenden aber auf ihr geisteswissenschaftliches Pflichtpensum anrechnen lassen können. Im Kurs sitzen unter anderem Ingenieure, Informatikerinnen, Architekten, Biologinnen, Pflegewissenschaftler – allesamt Angehörige einer Generation, die nicht liest. Viele von ihnen stehen zu ihrer Unlust am Lesen, woraufhin ich erkläre, dass die Beziehung zu Büchern eine affektive ist. Manchmal, sage ich, wollen wir uns mit dem einen Freund treffen und nicht mit dem anderen. Einmal begegnen wir jemandem, den wir auf Anhieb mögen, ein anderes Mal nicht. So sei das auch mit Büchern, sie eröffnen Möglichkeiten. Das Seminar endet mit einem Besuch des Archivs. Ein Teil der Studierenden ist motiviert weiterzulesen, ein anderer nicht. Die meisten wissen jedoch zu schätzen, dass sie den Kosmos Macondo kennenlernen durften.

«Was für ein tolles Buch!», sagte meine Mutter, nachdem ich mit dem Lesen fertig war. Ana Magdalena muss die Gebeine ihrer Mutter exhumieren lassen, und wie Rebeca in Hundert Jahre Einsamkeit trägt sie sie in einem Sack nach Hause. Mir erscheint diese Szene wie eine Metapher für meine Abreise am kommenden Tag. Immer wenn ich mich in den letzten Jahren von meiner Mutter verabschiede, trage ich ihre Seele in meiner fort. Mit jedem Mal wird der Schmerz des Abschieds größer, lastet ihr gebrechlicher Körper schwerer auf meinem Herzen. Sie so selten zu sehen, macht mich traurig. Ich fühle mich schuldig, weil ich so weit weg von ihr wohne, und traurig, dass ich die Schlaglichter unglücklicher Kindheit verpasse, die das Alter zuweilen heraufbeschwört.

Es ist 21:20 Uhr; Zeit, schlafen zu gehen. «Mir hat das Buch gefallen», sagt Nelly Magdalena, die lange Zeit eine große Leserin war, so lange, bis sie sich nicht mehr konzentrieren konnte. Noch einmal denke ich, dass Bücher Beziehungen sind, keine Gegenstände von sachlichem Wert oder objektiver Bedeutung. Meiner Mutter gefiel das Buch so gut, dass sie manchmal beim Zuhören den Faden verlor, vielleicht auch aus Freude, weil ich es war, die ihr vorlas.

Einige Kritiker sagen, Wir sehen uns im August hätte niemals veröffentlicht werden dürfen. Die Erzählung von der Frau, die jedes Jahr für eine einzige Nacht ein neues flüchtiges Abenteuer sucht, sei nicht ausgefeilt genug. Für Nelly Magdalena war sie es. Für mich ist es die Geschichte einer Tochter, die sich einmal im Jahr auf den Weg macht, um ihre Mutter zu sehen. Und am Ende entdeckt, dass sie sie immer schon bei sich trug.


Die spanische Originalversion dieses Textes erschien zuerst in der argentinischen Zeitschrift Anfibia unter dem Titel «El libro que no debía ser publicado». Wir danken unseren Kolleg:innen in Buenos Aires für die Genehmigung zur Übersetzung.

Bio:
Gabriela Polit Dueñas ist Autorin und Professorin für Spanisch und Portugiesisch an der University of Texas in Austin. [Mehr lesen]