Erster TraumSor Juana Inés de la Cruz übers. v. Nora Zapf
Turia + Kant Nov. 202315 € 96 S.

In Mexiko ist Sor Juana Inés de la Cruz (1648/51–1695) eine nationale Größe. Ihr Porträt ist auf Geldscheinen und Briefmarken zu finden. Man sieht sie auf T-Shirts und Postern, es gibt sogar eine Teetasse mit ihrem Bild und dem Motto: «Ohne Klarheit keine Weisheit». Feministinnen beziehen sich auf sie, und auch für die LGBT+ Community ist sie eine Referenz. Schon 1935 wurde sie zur Filmfigur, 1990 drehte die Argentinierin María Bemberg einen Spielfilm, der auf der großen Sor Juana-Studie (1982) von Octavio Paz gründete, 2016 schilderte eine siebenteilige Fernsehserie ihr Leben geradezu episch. Aber auch zu Lebzeiten war sie bereits hochberühmt. Man nennt sie «amerikanische Dichterin», eine dreibändige Ausgabe ihrer gesammelten Werke bezeichnet sie als einzigartige Künstlerin und zehnte Muse, deren Dichtungen «elegant, feinsinnig, hellleuchtend und ingeniös» sind. Heute gilt sie als Begründerin der mexikanischen Dichtung. Im deutschen Sprachraum ist sie, trotz einiger Übersetzungen, kaum bekannt geworden. Nun hat die Literaturwissenschaftlerin und Lyrikerin Nora Zapf eine neue Übersetzung ihres bedeutendsten Werks Erster Traum veröffentlicht; die Reihen-Herausgeber Johannes Kleinbeck und Oliver Precht steuern ein Vorwort bei.

Neuer Geist auf neuem Kontinent

Das europäische 16. und 17. Jahrhundert gehört nicht mehr zum Mittelalter und noch nicht zur Moderne. Deshalb wird die Zeit der Renaissance und des Barock auch als Prämoderne charakterisiert. Mit dem im Westen «entdeckten» neuen Kontinent Amerika brach die alte Weltordnung auf. Der Gedanke des Neuen allgemein gewann Bedeutung. Wissenschaft, Kunst und Politik lösten sich aus der Vormundschaft der Theologie und beanspruchten eine Wirklichkeit eigenen Rechts. Sie erklärten und deuteten die Welt nicht mehr nach Maßgabe einer übernatürlichen Ordnung, sondern natürlicher Gesetze, die nicht durch den Glauben an die göttliche Offenbarung, sondern durch die menschliche Vernunft und wissenschaftliche Forschung erkannt werden. Kultur und Gesellschaft wurden durch gewandelte Formen der Kunst und Konzeptionen der Politik neu konfiguriert.

Dieser neue Geist wehte auch in den spanischen Kolonien von Mittel- und Südamerika, die seit Karl V. und Philipp II. durch eine komplexe Kolonialgesetzgebung in Gestalt von Vizekönigtümern verwaltet wurden. Das höfische Leben wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend zivilisierter und kulturell wie intellektuell anspruchsvoller. Die Gesellschaft feierte die kirchlichen Feste und die säkularen Ereignisse mit aufwendigen Festen. Dazu wurden jeweils Gedichte vorgetragen sowie Theaterstücke aufgeführt. In dieser Welt wurde Sor Juana Inés de la Cruz sozialisiert. Die Vizekönige in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts protegierten zusammen mit ihren Ehefrauen Sor Juana und gaben ihr Aufträge. Vor ihrem Eintritt ins Kloster gehörte sie zum inneren Kreis der höfischen Gesellschaft in Mexiko; und auch danach nahm sie am intellektuellen Leben der Stadt teil. Die Hieronymitinnen, denen sie angehörte, waren ein Orden nicht allzu strenger Observanz. Sie hatte eine «Zelle» aus mehreren Räumen, in deren Salon sie Gäste empfing und intellektuelle Treffen veranstaltete.

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