Nachdem im Februar diesen Jahres auf der Berliner Torstraße ein jüdischer Student von einem Kommilitonen krankenhausreif geschlagen wurde, erteilte die Freie Universität Berlin dem Tatverdächtigen ein Hausverbot. Vielen ging das nicht weit genug, sie forderten seine Exmatrikulation. Die Universität erwiderte auf X, formal sei das im Rahmen des Hochschulgesetzes nicht möglich, und tatsächlich war das Ordnungsrecht, das ihr diese Kompetenz gegeben hätte, 2021 abgeschafft worden. Der Zentralrat der Juden war – verständlicherweise – entsetzt und sprach von «Ausflüchten der Hochschulleitung» und «Rückzug auf Formalitäten».1

Im ersten Augenschein kann ein solches Argument gegen die Rechtsformalität vielen plausibel erscheinen: Wenn Menschenleben gefährdet sind, sollte das förmliche Recht kein Hindernis sein. Wenn es um Antisemitismus (sofern er hier die Ursache war) geht, müssten Grundrechte zurückstehen.

Historisch ist eine solche Argumentation jedoch schwer belastet. Carl Schmitt, der sogenannte Kronjurist des Nationalsozialismus, attackierte 1934 den liberalen Rechtsstaat dafür, dass er durch formale Methoden und Grundsätze, Normen und Einrichtungen die Durchsetzung materieller Gerechtigkeit verhindere. Nötig sei ein Rechtsbegriff, der sich nicht an der Form, sondern am Inhalt ausrichte, der nicht abstrakte Individualrechte vertrete, sondern ein Gemeinwohl.1 Der nationalsozialistische Staat nahm diese Argumentation dankbar auf, die entsetzlichen Folgen sind bekannt.

Kann man Carl Schmitts fatale Ansichten von ihrem historischen Kontext trennen? Ist ein Antiformalismus gerechtfertigt, vielleicht sogar wünschenswert, wenn er im Interesse guter Ziele verfolgt wird? Die Kritik an einer übertrieben großen Rolle für Formalismus und Grundrechte als Beschränkung staatlichen Handelns ist nicht nur mit dem Nationalsozialismus verknüpft, sie wird auch in der politischen Linken vertreten, und hier eben auch vom Zentralrat. Doch sie muss sich schwierige Fragen stellen lassen: Wer definiert, was die guten Ziele sind? Wie wäre ein Widerspruch gegen sie überhaupt möglich? Und wie schützt man diejenigen, die unter der Verwirklichung der guten Ziele leiden?

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