Seit Februar 2024 gibt es die Berlin Review als Online-Zeitschrift. Was sie nun hier im Print-Abo oder hier einzeln bestellen können, ist unser erster Reader, die gedruckte Auswahl einiger der besten Essays, Reviews und Memos aus unseren ersten sechs Monaten. Einiges davon lesen Sie im Reader zum ersten Mal, anderes ist bereits online auf dieser Seite erschienen, wo wir seit Februar das verwirklichen, worauf wir Lust haben: Texte entwickeln, redigieren und finalisieren, die Ihre (und unsere) Zeit wert sind.
Das erste Konzept für eine neue Zeitschrift für Gegenwarts- und Literaturkritik schrieben wir im Pandemiewinter 2020/2021. Die Welt stand still, aus Berliner und deutscher Sicht sollte es aber weitergehen wie eh und je. Rettungspakete wurden geschnürt. Deutschlands Mitte mühte sich, wie immer, um Ausgleich, Inklusion und moralische Betulichkeit. Die Kosten, die dieses Selbstbild schon lange verursachte, waren seit Jahrzehnten externalisiert oder zu Randphänomenen erklärt worden. Der illiberale Rollback grassierte im Osten, die wirtschaftliche Misere im Süden Europas. Im Inneren wurden Nazis und Rechtsextreme immer offensiver, ob nun mit Springerstiefeln oder ohne, und die Bitterkeit der ökonomisch oder kulturell Zurückgesetzten wuchs. Immerhin konnte man ihnen eine ebenfalls steigende Anzahl von Demokratie-Instituten, Antisemitismus-, Integrations- und Ostbeauftragten entgegenhalten. Deutschland als stets zu perfektionierendes Auftragswesen! Von außen überspannten vier Schutzschirme dieses Konstrukt: die USA als militärischer Garant; Russland als der energetische; Maastricht-Europa und der Euro als ökonomischer und migratorischer Schutzwall; und schließlich der enge Partner Israel, dessen Sicherheit man zur Staatsräson erklärte, um jeden Zweifel an der eigenen Moralität zeremoniell zu zerstreuen.
Schutzmechanismen sind von Natur aus psychologisch. Am besten funktionieren sie, wenn man sie nicht aktivieren muss. Doch spätestens seit 2022 werden sie heftig auf die Probe gestellt, und das politische Berlin reagiert mit Leerformeln, denen niemand richtig glaubt, oder verweist auf Regelwerke, die niemand richtig einhält – schon gar nicht die Akteure der genannten Schutzschirme. Wer von der Heftigkeit entsetzt ist, mit der Deutschland seit dem 7. Oktober für seine Doppelmoral in Sachen Völkerrecht und Menschenrechte in und um Gaza attackiert wird, auf Berliner Straßen, an Berliner Hochschulen, aber auch vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der muss schon lange in einem Paralleluniversum gelebt haben. In diese Fassungs- und Ratlosigkeit hinein publizieren wir unsere Zeitschrift für Bücher und Ideen.
Alle Texte unseres ersten Heftes vereinen den idiosynkratischen Blick auf das Superspezielle mit dem Sinn für Zusammenhang und Proportion. Damit sind sie repräsentativ für das, was wir mit Berlin Review wollen, doch sie sind es unter den besonderen Bedingungen einer Printausgabe. Anders als online, wo wir Bilder nur sehr sparsam verwenden, setzt der Reader mit einem Fotoessay von Maxime Verret einen visuellen Akzent. Digital veröffentlichen wir bei aller Formen- und Themenvielfalt, die uns wichtig ist, eine Mehrzahl an Buchbesprechungen; im Reader halten sich die drei Gattungen Essay, Review und Memo ungefähr die Waage. Die Grenzen sind ohnehin fließend. Unsere Reviews greifen ins Politische aus und liefern punktuelle Gegenwartsdiagnosen, unsere Memos lesen die Aktualität auch ästhetisch und literarisch, und die freistehenden Essays machen ohnehin alles zugleich. Grund genug, dass wir diese Genrebezeichnungen im Reader weglassen: Es spreche ein jeder Text für sich.
«Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.» Dieser Aphorismus Adornos liefert den Schlüssel zu einem Text über Sandra Hüllers Schauspielkunst, mit dem wir den Reader eröffnen. Clara Miranda Scherffigs Essay ist ein Glücksfall. Er lässt das Filmmaterial detailgenau lebendig werden, spannt den Bogen von Hüllers denkwürdigen Nebenfiguren zu ihren oscar- und césargekrönten Filmen des Frühjahrs und will doch Grundsätzlicheres klären: Warum erlebt diese seit Jahrzehnten respektierte Schauspielerin gerade jetzt, gerade als Frau, gerade als Deutsche ihren internationalen Durchbruch? Eine perfekt verinnerlichte Technik der «affektierten Aufrichtigkeit» erlaube es Hüller, zugleich fremdbestimmt und authentisch zu wirken, erklärt uns Miranda Scherffig. Als müsste Hüller sich erst zu ihren Emotionen zwingen lassen, um sich ihnen dann doch völlig hinzugeben. Geht es uns nicht allen ein wenig so, die wir ständig von irgendwas getriggert werden?
Geschichte wiederholt sich – nicht. Und sie wird auch nicht immerzu an denselben Orten geschrieben. Anfang Juni 2024 endeten in Indien die größten je abgehaltenen Parlamentswahlen, und trotz knappen Wahlausgangs konnte Narendra Modi sich an der Macht halten. Ralph Tharayil war im Frühjahr in Kerala, sein Reisetagebuch in freien Versen kontrastiert Modis chauvinistischen Hindunationalismus mit der marxistischen Lokalverwaltung dieser südindischen Provinz. In Gesprächsprotokollen forscht Yevgenia Belorusets der höllischen Situation ukrainischer Männer nach, die nicht sterben wollen, aber an die Front müssen; und in überschäumender Genauigkeit berichtet Alan Pauls aus Buenos Aires, wie Javier Milei als der derzeit wohl schrillste und entschiedenste Vertreter des libertären Rechtspopulismus einen Staat führt, den er eigentlich abschaffen will. Drei sehr unterschiedliche, sehr literarische, sehr politische Tagebücher aus den Randzonen europäischer Aufmerksamkeit, in denen sich die Zukunft entscheidet.
Unsere Autor:innen, die sich mit Belletristik bzw. Fiktion beschäftigen, begnügen sich nicht mit einer Inhaltsangabe plus Pointe, wie es in handelsüblichen Rezensionen oft der Fall ist. Sie steigen tiefer ein in die Mechanik der Gegenwart und ihrer Literatur. Zum Beispiel Claudia Durastanti: Während andere sich mühen, das nächste Debüt ins wacklige Regal zwischen Autofiktion und Sozialstudie einzusortieren, zeigt die italienische Autorin, mit welchen literarischen Strategien die Blockbuster-Romane von Benjamin Labatut, Catherine Lacey und Hernan Diaz von der Autofiktion okkupiertes Gelände zurückerobern. Oder Miriam Stoney: Sie beweist, dass man zu Übersetzungen sehr viel mehr sagen kann, als dass sie «kongenial» oder eben «ungelenk» seien, wie es in Feuilleton-Halbsätzen bisweilen heißt. Stoney schaut skeptisch auf eine Konjunktur von Erzählungen, die Übersetzerinnen zu Protagonisten machen und das Übersetzen ausgerechnet in dem Moment als existenzielle Metapher überhöhen, wo es stillschweigend von Maschinen übernommen wird. Oder Aleksey Konakov: Während manche besorgte Leserin fragt, ob man die alten Russen jetzt noch lesen dürfe, fragt der Petersburger Kritiker, was die neuen Russ:innen eigentlich lesen. In der Tat haben viele große Romanciers den Traum von Großrussland auf die eine oder andere Weise mitgeträumt. Wie steht es um die Gegenwart des Lesens im Land, unter den Bedingungen von Krieg, Repression und Isolation?
Solche Perspektiven und Fragestellungen entwickeln wir ohne Sekretariat, Großraumbüro und Investor, und nicht zufällig entwickeln wir sie dezentral. Berlin Review wird neben der namensgebenden Stadt auch in Rom und Fortaleza gemacht, in Dresden und Wien und überall, wo sich unsere Autor:innen aufhalten. Alle paar Wochen kommen wir in einer gemieteten Mansarde in der Berliner Brunnenstraße 188 zusammen, in einem der letzten noch nicht luxussanierten Altbauten in Mitte. In den 1920er- und 30er-Jahren befand sich hier der Firmensitz von Weinbergers Butter, der größten Butterhandlung der Stadt. Wie rund 50.000 andere jüdische Unternehmen in Berlin wurden die Gebrüder Weinberger von den Nationalsozialisten zuerst diffamiert, dann boykottiert und enteignet. Schließlich flohen sie nach New York. Der Historiker Christoph Kreutzmüller hat dieses tieftraurige Stück Stadtgeschichte in seinem Buch Ausverkauf – Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit 1930–1945 aufgeschrieben.
Ironie oder nicht, dieser Bürokomplex, in dem sich unser kleiner Atelier-Arbeitsraum befindet, ist seit dem Übertrag ostdeutscher Liegenschaften an die westdeutsche Verwaltung auch Sitz des Berliner Kultursenats. Wir arbeiten also gewissermaßen im Hinterhof von Kultursenator Joe Chialo. Dessen Vorschlag, sämtliche Berliner Kulturförderungen an eine Verpflichtung auf die umstrittene IHRA-Antisemitismusdefinition zu knüpfen, hat das Zeug dazu, die Berliner Kulturlandschaft noch heftiger zu spalten, als dies seit dem 7. Oktober ohnehin schon der Fall ist. Die Schutzschirme sind durchlöchert, und die Weltkonflikte schlagen durch bis Berlin.
«Das müssen wir am Material entscheiden» ist einer der häufigsten Sätze in unserem Redaktions-Chat, und nicht selten fiel er in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit Textvorschlägen über Antisemitismus, die deutsche Staatsräson und ihre Auswirkungen im Inneren, die mit ernst zu nehmenden Argumenten als repressiv, ja sogar grundrechtsverletzend beschrieben werden. Jüdinnen und Juden seien in Berlin nicht mehr sicher, sagen andere, und dass vielleicht beide Seiten recht haben, dass dies vielleicht stimmt, während jenes ebenfalls zutrifft, das ist für den erbitterten Grabenkampf um dieses Thema zu viel der Komplexität. Wären wir nur nach unaufgeforderten Einsendungen und Vorschlägen gegangen, wir hätten eine Sonderausgabe nach der nächsten zu diesem Komplex veröffentlichen können.
Haben wir aber nicht, denn was wir machen, entscheidet das Material. Wir haben natürlich auch eine eigene politische Haltung, im Vordergrund steht aber, dass die Texte, die wir publizieren, gedanklich scharf, sprachlich originell, schlüssig argumentiert und faktisch korrekt sind. Das erklärt, wie und warum manche Texte zustande kommen, und andere eben nicht.
Berlin, im Juni 2024