«Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.» Diese Worte Wittgensteins betreffen genau das Thema, das du anzufassen versuchst. Du wirst das Dilemma mit deinem Text nicht lösen, also schreibe besser gar nicht darüber. Dein Text wird entweder demoralisierend werden oder einfach dumm.

Es ist still und ruhig in Kyjiw, die Straßen sind leer. Mein Freund Andreij, der zwanzig Jahre in der Ukraine lebte, aber einen russischen Pass hat und nicht mehr hierher einreisen kann, versucht mich davon abzubringen, über die Einberufung in die ukrainische Armee zu schreiben.

«Die Solidarität mit der Ukraine muss bei dieser Lage mit aller Kraft aufrechterhalten werden. Und das bedeutet gerade jetzt, von solchen Angelegenheiten so wenig wie möglich anzuerkennen!» (Universitätsdozent aus Deutschland)

«Wenn Sie über die Mobilisierung schreiben, versuchen Sie die Situation von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Am einfachsten ist es, sich auf eine Seite zu stellen, aber dann wird die Wahrheit verschwinden.» (Unternehmer aus der Ukraine)

«Sie werden Ihre Artikel benutzen, um uns noch weniger Hilfe zukommen zu lassen. Und dann müssen noch mehr Menschen sterben.» (Ukrainischer Freiwilliger in Polen)

«Man kann alles sagen. Aber man muss wissen, wie man es tut und was die Konsequenzen sind.» (Journalist aus der Ukraine)

Jedes Telefonat oder persönliche Gespräch, das ich in den vergangenen Wochen geführt habe, führte zu solchen Bemerkungen, die wie Warnungen klangen. Zunächst beschloss ich, sie aufzuschreiben, damit sie mich weniger beunruhigen. Irgendwann fing ich an, zwischen mir und der Realität eine undurchdringliche Mauer zu spüren. In solchen Warnsätzen sah ich nicht mehr die Argumente der Vernunft oder das Mitgefühl, sondern die Angst und die Hoffnungslosigkeit, und auch die Hoffnung, dass etwas, das man sich nicht zu zeigen oder zu sagen traut, von selbst verschwinden würde, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Als im Mai das neue Mobilisierungsgesetz mit neuen Fristen, Meldepflichten und verschärften Strafen für die Verweigerung des Dienstes in Kraft trat, war ich auf dem Weg nach Kyjiw.

Grigorij

In einem Zug, der durch Polen in Richtung Ukraine fuhr, saß mir ein Soldat gegenüber. Wir kamen schnell ins Gespräch. Er war 58 Jahre alt, kam zurück von der Rekonvaleszenz in Deutschland und sprach begeistert über die deutsche Medizin. Sein Name war Grigorij, er stammte aus der Region Schytomyr und war vor dem Krieg im Agrargeschäft tätig gewesen.

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