Suhrkamp Apr. 2024 24 € 297 S.
In Kritik und Krise erzählt Reinhart Koselleck die geistige Vorgeschichte der Französischen Revolution aus der Sicht ihres Gegners, der französischen Monarchie. Diese Perspektivumkehr ist oft als Parteinahme gedeutet worden, wozu es dank Kosellecks offen erklärter Nähe zu Carl Schmitt genügend Anlass gab.
Tatsächlich interessierte sich Koselleck – anders als Schmitt – wenig dafür, seine politischen Wertungen historisch zu adeln. Was ihn interessierte, war das mit der Aufklärung in die Geschichte hereingebrochene Moment der Emanzipation. Genauer: die Frage, wie es möglich ist, dass gerade das emanzipatorische Versprechen auf eine herrschaftsfreie Zukunft zum Hindernis seiner eigenen Erfüllung wird – 1789 in Form eines revolutionären Bürgerkrieges, der sich kontinental ausbreitete, nach 1945 in Form einer polaren Aufteilung der Welt, in der die Menschheit Gefahr läuft, sich «in dem Prozess, den sie gegen sich selber angestrengt hat, mit in die Luft zu jagen».
Die Antwort auf diese Frage, die Koselleck in Kritik und Krise auf knapp 160 mitreißenden Seiten entfaltet, enthält eine «Dialektik der Aufklärung», in der das dualistische Weltbild des Emazipationsversprechens als Epochenmerkmal erscheint. Indem der König die wesentlichen Herrschaftsfunktionen auf sich vereinte, entlastete er das religiöse Gewissen und die moralischen Überzeugungen seiner Untertanen und enthob sie der Notwendigkeit politischer Reflexion. Doch in Teerunden, Salons und gelehrten Zeitschriften radikalisierte sich die anfangs noch unpolitische Gesinnung der Aufklärer, bis sie schließlich den absolutistischen Staat, in dessen Schatten sie herangewachsen war, offen infrage stellte: im moralischen Räsonnement über die Untugend der Herrschaft, in der öffentlichen Kritik an den Arcana des Hofes, in geschichtsphilosophischen Prophezeiungen vom Untergang der Adels- und Königstyrannei.
Die Kräfte der Emanzipation übernahmen das Dualistische ihrer Lage in ihr Weltbild. Sie setzten Vernunft gegen Offenbarung, Freiheit gegen Despotie, Natur gegen Staatsmaschinerie, Handel gegen Krieg, Moral gegen Politik, Fortschritt gegen Dekadenz und Licht gegen Finsternis. Die politische Ohnmacht der Beherrschten inspirierte zum Ideal einer freieren Lebensform, das den bestehenden Zuständen entgegenhalten werden konnte.
Es ist bezeichnend, dass diese dualistische Struktur bis heute durchblitzt, wo immer Emanzipation versprochen oder theoretisch plausibilisiert werden soll. Koselleck selbst sah darin eine Art modernes «Gesetz» beschleunigter Befreiungsansprüche, deren Herrschaftscharakter schließlich wieder zur Überbietung auffordert. Daniel Loick will die kritische Theorie, deren vierter Generation er angehören dürfte, wieder an dieses Emanzipationsversprechen anschließen.
In Die Überlegenheit der Unterlegenen, wie die Neuerscheinung des in Amsterdam lehrenden Sozialphilosophen heißt, ordnet Loick sich selbst einer übergreifenden Bewegung zu: Während die frühe Frankfurter Schule «aus der sozialen Integration des Proletariats in die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Scheitern einer Verhinderung des europäischen Faschismus» den Schluss gezogen hatte, dass nunmehr nur noch die Totalität der Herrschaft zu analysieren sei, und ihre Nachfolger wie Habermas und Honneth sich darauf beschränkten, die normativen Potenziale der Moderne zu verteidigen und auszuweiten, gälte es heute wieder, radikale Kritikformen zu übernehmen, die darauf drängen, die «Verhältnisse zu überwinden». Kritikformen, die nicht die alte Welt vervollständigen, sondern «eine neue schaffen» wollen.