Matthes & Seitz Jan. 2023 28,99 € 675 S.
«Zuerst haben die Russen viel Geld investiert, um Grosny in Schutt und Asche zu legen. Jetzt investieren sie viel Geld, um Grosny wieder aufzubauen.» Das berichtete mir 2007 ein georgischer Arbeitsmigrant, der seine Sommermonate auf dem Bau der tschetschenischen Hauptstadt Grosny verbrachte. Es lohnte sich für ihn wegen der besseren Löhne, und weil es nicht weit ist von Georgien ins benachbarte Tschetschenien. Als Russland im Jahr darauf nach Abchasien und Südossetien einmarschierte, die Kontrolle über diese Regionen erlangte und binnen fünf Tagen weit auf georgisches Territorium vordrang, war der Arbeitsmarkt in Grosny für ihn verschlossen.
Russland nimmt massiven Einfluss auf das politische Leben im Kaukasus, vom Norden der Gebirgsregion, wo Tschetschenien als autonome Republik zur Russischen Föderation gehört, bis zum Süden mit den unabhängigen Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Einfluss nahm Russland, als es Grosny in den Neunziger- und Nullerjahren zweimal zerbombte, weil Tschetschenien sich nach 1991 von Russland lösen und unabhängig machen wollte. Einfluss nahm es auch, als es Georgien militärisch in die Knie zwang. Heute bestimmt Russland die politische Zugehörigkeit des Nordkaukasus und lässt die unabhängigen Staaten des Südkaukasus nicht aus seinen Fittichen.
Wer sich dem Westen zuwendet, wie Georgien und seit Kurzem auch Armenien, dem wird die Macht Russlands vor Augen geführt. So schützte Russland vormals Armenien und die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach vor territorialen Ansprüchen des Nachbarn Aserbaidschan. Nachdem mit Nikol Paschinjan 2018 ein dem Kreml missliebiger Regierungschef übernahm, verlor Armenien diesen Schutz. Die Folge war die militärische Eroberung großer Teile Bergkarabachs 2020 durch die Aserbaidschaner und die vollständige Vertreibung aller ethnischen Armenier:innen aus dem Gebiet im September 2023. 100.000 Menschen wurden vertrieben, ohne dass die Weltöffentlichkeit davon groß Notiz nahm. Der russische Großangriff auf die Ukraine macht überdeutlich, wie weit Russland zu gehen bereit ist, um seine territorialen Ansprüche durchzusetzen. Die gegenwärtige georgische Regierung unter Premierminister Irakli Kobachidse bemüht sich um Appeasement unter Preisgabe der in der georgischen Verfassung festgeschriebenen Westorientierung.
Grosny, die Schreckliche
Wer verstehen will, wie es zur Machtstellung Russlands im Kaukasus kam, findet Antworten in Walter Sperlings Buch Vor den Ruinen von Grosny. Sperling ist Osteuropahistoriker und hat für das Buch mehrere Jahre in Grosny recherchiert. Seine Recherche beschränkte sich nicht auf Archive, sondern zeigte sich den Menschen gegenüber offen. Sein umfangreiches Buch ist deshalb nicht nur gut zu lesen, aufgrund der zahlreichen Fotos, Karten und Zeichnungen ist es auch hervorragend geeignet, die Alltagsgeschichte Grosnys vom russischen Kolonialismus bis in die Gegenwart anschaulich werden zu lassen.
Grosny ist eine russische Gründung, genauer, eine ehemalige Garnisonsstadt zum Zweck der russischen Kolonisierung. Der Name der 1818 gegründeten Stadt bedeutet wörtlich «die Schreckliche», denn als solche sollte sie wahrgenommen werden während der militärischen Unterwerfung der Region. Von Grosny aus wurden Strafaktionen organisiert, die ganze Dörfer in Geiselhaft nahmen. «Sie schlugen Schneisen in die Wälder hinein [um Rückzugsraum zu nehmen], brannten Dörfer nieder, töteten das Vieh, ermordeten Männer, Frauen und Kinder, um Angst und Schrecken zu verbreiten», schreibt Sperling. Die Einwohnerzahl der Argun-Ebene im Osten Grosnys reduzierte sich allein im Zeitraum zwischen 1840 und 1850 auf ein Viertel. Der Orientalist und russische Staatsbeamte Adolf Bersch hielt fest: «Die einen Aule [Dörfer] wurden bei der erstmaligen Eroberung Tschetscheniens unter General Jermolow niedergebrannt (…), die anderen beim Durchmarsch unseres Korps beim Aufstand der Tschetschenen im Jahre 1841, und die dritten schließlich [wurden zerstört], als wir die Festung Wosdwischenskaja angelegt haben.»
Wer sich nicht unterwerfen wollte, schloss sich Diebesbanden an, den sogenannten Abreken, die es hauptsächlich auf russische Siedlungen und Konvois abgesehen hatten, oder ging in den bewaffneten Widerstand, der von lokalen Sufi-Scheichs wie Imam Schamil im Zeichen des Islam angeführt wurde. Durch Guerillataktik gelang es diesen Widerstandsgruppen, die russische Armee jahrzehntelang auf Abstand zu halten. Mit dem endgültigen Sieg über Schamils Truppen endete 1859 die militärische Spezialoperation des zaristischen Russlands im Kaukasus des 19. Jahrhunderts.
Bald darauf folgte der Handel und damit eine Form der Kooperation mit der lokalen Bevölkerung. Besonders die lokalen Ölvorkommen machten die Gegend reich. Zwar flossen die Gewinne zumeist in internationale Aktiengesellschaften und Banken, doch mit dem Aufstieg der Industrie wurde Grosny zum attraktiven Handelsplatz für landwirtschaftliche Produkte wie Getreide, Mais, Mehl, Früchte, Nüsse und Tabak. Es entstanden tschetschenische Eliten, die einen russischen Lebensstil zelebrierten und sich als fortschrittlich verstanden. Die «Zivilisierung» Grosnys durch die russische Kultur wurde also nicht nur oktroyiert, wie Sperling betont, sie konnte auch auf eine Eigendynamik innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft setzen – wie so häufig im Kolonialismus. Der entstehende Internationalismus der Tschetschenen war in gewisser Weise ein ungewollter: nicht politisch forciert, sondern situativ entstanden.
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