Die ProjektorenClemens Meyer
S. FischerAug. 2024 36 € 1056 S.

«Die strengste Regelmäßigkeit kann den kleinsten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen», schrieb Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie. Was das konkret fürs Theatermachen heißt, musste Jan Philipp Reemtsma ex negativo erfahren, als er sich bei den Karl-May-Spielen unters einfache Volk mischte. In seinem Buch Lessing in Hamburg klagt Reemtsma: «Eine Bühnenregel – eine gute, die wirklich stets beobachtet werden sollte – lautet, daß Auftritte und Abgänge motiviert sein müssen. (…) Denn was für ein kläglicher Anblick ist es, wenn im Bad Segeberger Freilichttheater, nachdem die Hauptpersonen verabredet haben, am Rio Pecos einander wiederzutreffen, und abgeritten sind, die verbleibenden minderen Chargen sich ohne weitere Erklärungen von der Bühne, die für die nächste Szene frei werden muß, trollen (…), was für ein befremdlicher Anblick (…) ein Indianerhäuptling, der ohne Not sein Pferd eine Pirouette drehen und mit dem notdürftigen Hinweis, er habe noch anderswo im Wilden Westen etwas zu tun, durch das Pappmaché-Felsentor galoppieren läßt.»

Unmotivierte Auftritte und Abgänge, continuity errors, Pirouetten ohne Not, befremdliche Anblicke und Felsentore aus Pappmaché gibt es auf den mehr als 1.000 Seiten von Clemens Meyers Die Projektoren wie Sand in der Bucht von Triest. Weiter südlich, wo die Adriaküste schroff und felsiger wird, spielt einer von mehreren Anfängen dieses wuchtigen Romans, der kein kurzes oder langes, sondern ein ganzes Jahrhundert erzählend umfasst: von Karl Mays letztem Vortrag in Wien und seinem Tod in der Villa Old Shatterhand in Radebeul – 1912 – bis ins europäische «Krisenjahr 2015».

Ein junger Partisanengehilfe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf einer unglückseligen Mittelmeerinsel interniert, weil er sich mit dem Ustascha-Abzeichen der kroatischen Faschisten erwischen ließ, das er zur Tarnung trug – oder nicht nur? Zu Beginn des Romans jedenfalls, Ende der Fünfziger, lebt er zurückgezogen mit einem Schäfer, der an Faulkners Benjamin Compson erinnert, im kroatischen Velebit-Gebirge. Ein paar Jahre später taucht ein westdeutsches Filmteam vor seiner Haustür auf, um hier im blockfreien Jugoslawien «romantische Western nach den Romanen und Reiseerzählungen des Dr. May zu drehen». Der «Cowboy», wie ihn die kroatischen Bauern nennen, wird als Statist und Sprengstoffexperte ins Set integriert und freundet sich mit Lex Barker an, dem hünenhaften Kriegsveteranen, Waffenfanatiker und Darsteller von Old Shatterhand.

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Auch der Cowboy ist dabei in diesem Krieg, mit den «Insignien beider Kriegsparteien» diesseits und jenseits der gläsernen Grenze. Dazu gesellt sich eine Gruppe deutscher Jungnazis, die sich ihren kroatischen Gesinnungsgenossen als Waffenbrüder andienen, um den ausgebliebenen «Bürgerkrieg im Lande D., nach der sogenannten Wende» weiter südöstlich nachzuspielen. Und auch «der Schut» darf bei all dem nicht fehlen, benannt nach dem orientalischen Oberschurken Karl Mays, bei Meyer eine die Zeiten und Räume durchwandernde Verkörperung des Bösen, die mal als serbischer General, mal als transzendentaler V-Mann im Auftrag der CIA ihr Unwesen treibt.