R: Frank Castorf Berliner Ensemble
325 Min. 14. 9. 2024
R: Robert Lepage Schaubühne Berlin
285 Min. 3. 10. 2024
R: Daniel Foerster Deutsches Theater Berlin
90 Min. 27. 9. 2024
R: Dor Aloni Maxim Gorki Theater
55 Min. 27. 9. 2024
Das deutsche Stadttheatersystem ist ein skurriles Ding. Es wird von frühneuzeitlich organisierten Handwerkszünften getragen, unter behördlicher Verwaltung. Trotzdem soll es sich so fröhlich vermarkten wie ein Start-up. In seinem Zentrum, auf der Bühne, soll es Kunst produzieren. Diejenigen, die Kunst machen, den Apparat also seiner Zweckbestimmung zuführen, sind dabei im Betrieb die Schwächsten. Für sie ist am wenigsten Geld da.
Noch dazu stammt das alles, verkürzt gesagt, vom Hoftheater ab, aus der Zeit mäzenatischer deutscher Provinzfürsten. Kaum war das Bürgertum entstanden, wollte es sich auch mit Hochkultur schmücken. Man wollte den verschwenderischen aristokratischen Glanz und dazu noch die Verruchtheit der bürgerlichen Volkstheater, breitenwirksame Subkultur im Grunde, und ein bisschen Aufklärung. Nur Mäzenatentum wollte man nicht. Man wollte Leistung sehen. In der bürgerlichen Gesellschaft wurden kunstausübende Menschen von Anfang an bewundert (für Glanz und sexy Glitzer) und verachtet (weil sie nicht ordentlich arbeiten). Das ist bis heute nicht anders. Und im Grunde ist dies ein größeres Drama als alles, was die deutschen Stadttheater auf die Bühne bringen können.
Ein Wunder, dass unter diesen Bedingungen gelegentlich Kunstproduktion gelingt. Die Theaterkritik, die zu großen Teilen in Komplizenschaft mit dem Apparat agiert, der sie ernährt, schwärmt dann von einem «Theaterwunder».
An den großen und wichtigen Berliner Bühnen wurde auch in diesem Jahr das Drama der Spielzeiteröffnung aufgeführt. Unter anderem traten auf: Ein Regie-Drache im Greisenalter, der keuchend und hustend Funken und Asche spuckte. Ein von allen verehrter kindlicher Theaterkaiser aus fernen Landen, noch nicht ganz im Greisenalter, der sich als großen Geschichtenerzähler pries und einen Sack voller Kitsch ablud. Eine jüngere Autorin und Musikerin mit einer altmodischen Liebe für das blutende Menschenherz und einem Text voller Buzzwords. Und ein jüngerer Pianist und Lyriker mit einer tiefen Leidenserfahrung und erstaunlich viel Sanftheit im Gepäck.
Die Inszenierungen der älteren bis uralten Geniemänner feierten ihre Premieren in den großen Sälen vor 400 bis 700 Menschen, die der Jüngeren in den Experimentierstätten mit knapp 100 Plätzen. Die Inszenierungen der Geniemänner dauerten einmal fünf und einmal vier Stunden. Von den Inszenierungen der Jüngeren nahm eine 90 Minuten in Anspruch, die andere nicht einmal 60. Öffentliche Aufmerksamkeit bekamen für ihre Arbeit nur die alten Männer.
Deutsche Furcht und deutscher Schrecken
Im Berliner Ensemble hat Frank Castorf sich Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? vorgenommen, erschienen in einem Deutschland fünf Minuten vor Hitler. Da geht es mit viel Berliner Schnauze um den Überlebenskampf eines kleinbürgerlichen jungen Paares zwischen Moabit und Provinz nach der Weltwirtschaftskrise. Das Kleinbürgerliche daran ist nah an Castorfs eigener Herkunft im Arbeiterstaat DDR, und die Verachtung der echten Arbeiter für Kulturmenschen und deren daraus resultierende Schuldgefühle spielen in der Inszenierung immer wieder eine Rolle.