Suhrkamp Mai 2024 12 € 110 S.
Suhrkamp Mai 2024 22 € 114 S.
Suhrkamp Mai 2024 12 € 100 S.
Suhrkamp Sept. 2024 13 € 111 S.
Die Wege des Buchmarkts sind verschlungen und undurchschaubar, voller Begebenheiten, die sich allein durch Logik oder Kommerz nur schwer begreifen lassen. Wie ist etwa das Debüt der italienischen Schriftstellerin Dolores Prato mit 88 Jahren zu erklären, deren Freundin Lina Brusa Arese 1977 einen ersten, noch unvollständigen Romanentwurf bei ihrem Mieter in der Turiner Via Biancamano vorbeibringt, dem Verlag Einaudi? Das Manuskript wird angenommen, braucht aber noch zwei Jahre bis zur Fertigstellung und ist dann 1.058 Seiten stark. 1980 kommt es in den Druck, nachdem Natalia Ginzburg, damals Lektorin bei Einaudi, den Roman in einer beeindruckenden Kürzungsleistung auf knapp über dreihundert Seiten eingedampft hat. Die Autorin ist darüber nicht glücklich.
Als das Werk siebzehn Jahre später von Giorgio Zampa ungekürzt neu aufgelegt wird, ist Dolores Prato bereits tot. Giù la piazza non c’è nessuno (Unten auf der Piazza ist niemand), so der Titel, erzählt in einer ganz eigenen, sonderbaren Sprache von einer Kindheit im Hinterland der Marken zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In beiden Fällen, in der abgespeckten Variante und im Original, findet das Buch ein positives Echo bei Publikum und Kritik. Bis heute erscheinen im römischen Verlag Quodlibet immer wieder Neuauflagen. In den letzten Jahren wurde es ins Französische, Niederländische und Deutsche übersetzt; 2025 wird es auch auf Englisch und in Amerika erscheinen.
Eine weitere Autorin, die ihr Debüt mit über achtzig hatte, ist die Argentinierin Aurora Venturini, deren Roman Die Cousinen 2022 in Italien bei Edizioni Sur erschienen ist. Venturini, eine sicherlich recht unbequeme Zeitgenossin, war in den 1950ern in Buenos Aires eine politisch aktive Dichterin und Freundin von Evita Perón. Nach dem Staatsstreich emigriert sie nach Paris, wo sie in den Kreisen von Sartre und de Beauvoir verkehrt. Zurück in Argentinien publiziert sie einige kleinere Romane, die weder beim Lesepublikum noch bei der Kritik besonderen Anklang finden; von sich selbst sagt sie, dass sie mit der Literatur ihres eigenen Landes nicht viel anfangen kann und sich eher der europäischen Tradition und insbesondere ihrem entfernten Verwandten Tomasi di Lampedusa verpflichtet fühlt.
Erst 2007 tritt sie wirklich in Erscheinung, als sie im Alter von 85 Jahren an einem Literaturwettbewerb der argentinischen Zeitung Página 12 teilnimmt, für den die Schriftstellerin Mariana Enriquez in der Jury saß. Enriquez selbst findet für die über 80-jährige Debütantin im Vorwort der italienischen Ausgabe von Die Cousinen überaus bezeichnende Worte: «Zur Verleihung erschien die schlanke Dame mit dem ausdrucksstarken Gesicht mit einer beinahe punkigen Attitude, ihre kleinen dunklen Augen schienen alles gleichermaßen naiv wie belustigt zu betrachten, und sie sagte: ‹Endlich eine ehrliche Jury.›»
Die Geschichte von Fleur Jaeggy scheint eine ganz andere zu sein: Sie beginnt ihre literarische Karriere gewissermaßen in den heiligen Hallen des italienischen Literaturbetriebs, als sie 1968 mit 28 Jahren in London Roberto Calasso heiratet, den Mitbegründer des renommierten Adelphi-Verlags, wo im selben Jahr Il dito in bocca erscheint, ihr erster Roman. Ingeborg Bachmann soll entscheidend zum Debüt ihrer jungen Freundin beigetragen haben, sie hat sie nicht nur ermutigt weiterzuschreiben, sondern auch Calasso auf das Manuskript aufmerksam gemacht. Il dito in bocca, schreibt Bachmann auf dem Bucheinband, «ist ein extravagantes und ungewöhnliches Buch, auch wegen seines großartig nachlässigen Umgangs mit der literarischen Tradition. Die Autorin hat einen beneidenswerten ersten Blick für Personen und Dinge, in ihr verbinden sich zerstreute Leichtigkeit und autoritäre Weisheiten.»
Und doch, trotz der Veröffentlichung in einem maßgeblichen Verlag, der Unterstützung einer international anerkannten Autorin und der Ehe mit einem der einflussreichsten Verleger der europäischen Literatur des späten 20. Jahrhunderts, hat auch Fleur Jaeggys Karriere etwas seltsam Verzögertes an sich.