Als ich vor elf Jahren London verlassen habe, wo ich fast zwanzig Jahre lang gelebt hatte, zuerst verloren und unglücklich, dann, nach einer mehrmonatigen Unterbrechung, glücklich und zu Hause, beruhte meine Entscheidung auf der absehbaren Entwicklung der englischen Universität. Sie beruhte auf der beschleunigten Umwandlung der geisteswissenschaftlichen Lehre in einen selbsttragenden Betrieb, die der Premier David Cameron unmittelbar nach seiner Machtübernahme angekündigt hatte. Schon in der zweiten Semesterwoche musste ich während des letzten autumn term, das ich an Goldsmiths gelehrt habe, Zufriedenheitsumfragen in meinen Seminaren durchführen, weil das Überleben jener Fächer, denen die öffentlichen Zuwendungen entzogen worden waren, nunmehr von der Anzahl der Studenten abhing, die hohe Gebühren für ihr Studium entrichten mussten, vor allem, wenn sie aus dem nicht-europäischen Ausland kamen, oder von der Gewährung von Fördermitteln, vor allem, wenn das Geld aus Brüssel floss. Die Universität behielt einen Prozentsatz der gewährten Summen ein. Um solche Mittel bewarb sich meistens eine fachübergreifende Gruppe von Akademikern, die wenig mehr verband als die Hoffnung, sich mit einem erfolgreichen Großprojekt für ein paar Jahre die Gunst der Universitätsverwaltung zu sichern und von der Lehre loszukaufen, durch die temporäre Einstellung billiger junger Arbeitskräfte, die gerade promoviert hatten.
Auf der Etage, auf der sich das Büro des Rektors befand, hatte man rings um den Treppenaufgang Fotografien jener Akademiker und Akademikerinnen ausgestellt, die sich besonders verdient um das College gemacht hatten, sei es durch ihre Bemühungen um den Anstieg der Immatrikulationen lukrativer Studenten, sei es durch ihren Beitrag zum Erwerb von profitablen Fördermitteln. Doch es soll nicht ausgereicht haben. Im Frühjahr 2024 berichtete die englische Tageszeitung The Guardian, die Rektorin habe einen Plan für ein «Umwandlungsprogramm» vorgelegt. Es sah die zwangsmäßige Entlassung von mindestens 132 fest angestellten Lehrkräften – oder von noch mehr Lehrkräften, wenn sie nur über zeitlich beschränkte Verträge verfügten. Für manche Fächer – darunter Englische Literatur, Soziologie, Kunst – konnten diese Sanierungsmaßnahmen, wie man sie in der deutschen Unternehmersprache nennen würde, eine Einbuße der Hälfte ihrer Lehrenden bedeuten. Bin ich also froh, der englischen Universität rechtzeitig den Rücken zugekehrt und eine verbeamtete Professur in Deutschland erhalten zu haben?
Am Ende war ich vernünftig und bin dem Rat nicht gefolgt, den mir mein alter Freund und Lehrer Giorgio Agamben viel später einmal geben würde: weder auf die Vernunft noch auf den Willen zu achten und immer das zu tun, was einem zusagt und wonach einem der Sinn steht. Die spanische idiomatische Wendung, die Agamben verwendet hat, lautet dar la gana, Lust auf etwas haben, etwas tun oder nicht tun, ohne dieses Tun mit Gründen zu rechtfertigen. Alle, die gleich Zeter und Mordio schreien – die Neunmalweisen –, weil sie darin nichts anderes zu erkennen vermögen als eine Freigabe ichbezogener Willkür, eine Selbstsucht, deren Verselbständigung nur zum Bösen führen kann, sollten sich sagen, dass ihr Einwand zu sehr auf der Hand liegt, um nicht vorweggenommen zu werden. Und sie sollten beachten, dass die gana auch an die Stelle des Wollens treten soll, dass Agamben die Vernunft und den Willen nennt.
Gana bedeutet Wunsch, Appetit, Verlangen, Hunger, Aussein auf etwas, und verweist philosophisch auf das Drängen des conatus, etymologisch auf Freude und Wonne, auf ein Scheinen oder Leuchten, das vom Jubel ausgeht, aber auch auf eine Gier und eine Begierde, auf einen offenen Mund. Die Zweideutigkeit der idiomatischen Wendung dar la gana besteht in der doppelten Betonung, die sie zulässt. Wenn ich sage, «es verlangt mich danach, dies oder jenes zu tun», das Es dabei betone, verweise ich auf etwas, das mein Verlangen weckt und mir dadurch zusagt. Wenn ich hingegen sage «ich tue, wonach es mich verlangt», den Selbstbezug dabei betone, verweise ich auf etwas, das mir zusagt, weil mein Verlangen danach trachtet. Die Rückbezogenheit der idiomatischen Wendung (me, mich), die nicht in der Grammatik gründet, in einem reflexiven Gebrauch des Verbs, schwankt so je nach Betonung zwischen einem Ich («mein Verlangen») und einem Es, das unbestimmt bleibt und von dem das Verlangen selber, das Ich, abhängt.
Nicht die Selbstsucht hatte Agamben also im Sinn, sondern das «Es» in seiner wesentlichen Unbestimmtheit. Statt um ein selbstsüchtiges Ich und dessen Gefallen zu kreisen, kreist alles um ein Es, von dem sich das Ich gleichsam einnehmen oder gebrauchen lässt, bevor es sich als Ich zu behaupten vermag, als Ich konstituiert. Alles kreist um eine Zusage, um ein Sich-Ansprechen- oder ein Sich-Berühren-Lassen: Was mir zusagt, ist das, was sich mir zugesagt oder zugewandt hat. Eine Offenheit steht hier auf dem Spiel, nicht ein Sich-Verschließen und Sich-auf-sich-Versteifen. Wenn mich England eingenommen hatte, warum dann das Tuch werfen und auf meinem Vorteil bestehen, die gana ihm hintanstellen? Was habe ich so gewonnen (ganado)? Ein anderer alter Freund und Lehrer, Hugo Santiago, hatte mir, als ich mich Anfang der neunziger Jahre von meinem geliebten Leben in Paris abwandte und schweren Herzens, aber mit einem Stipendium nach San Francisco zog, zu verstehen gegeben, man finde immer ein Mittel, wenn man etwas wirklich wolle, etwa an einem bestimmten Ort zu bleiben.
Der erste Kontakt
Meine erste Begegnung mit dem neugewählten Präsidenten fand wahrscheinlich in dem Jahr statt, als die Pandemie ausbrach und sowohl die Lehrveranstaltungen als auch die institutionspolitischen Sitzungen auf kleinen Bildschirmen und vor eingebauten Kameras stattfanden. Sieben Jahre waren seit meinem Weggang aus England vergangen. Der Präsident rief am 1. September überraschend ein digitales Treffen ein, zu dem alle Professoren und Professorinnen der Fakultät eingeladen wurden. In den noch ungewohnten Kästchen erschien auch, soweit ich mich erinnere, das gesamte Präsidium, also Kanzlerin und Vizepräsidentinnen.
Das Treffen wurde als wichtig eingestuft. Es ging um ein leidiges Thema, mit dem sich der Fakultätsrat in der Amtszeit des präsidialen Vorgängers bereits regelmäßig beschäftigt hatte. Die Hochschulleitung hatte mit dem Berliner Senat Verträge abgeschlossen, die die Aufnahme einer sehr hohen Anzahl an Lehramtsstudenten vorsahen. So wollte die Politik dem selbstverschuldeten Mangel an Kunstlehrern abhelfen, die Grundschulen und Gymnasien wieder mit Kunstlehrern auffüllen. Weil nun einerseits personelle, sachliche und räumliche Kapazitäten an der Fakultät fehlten, die den aufzunehmenden Studenten ein sinnvolles Lehramtsstudium ermöglicht hätten, andererseits die Mitglieder der Zulassungskommission die vertraglich festgesetzte Aufnahmezahl nur erreichen konnten, indem sie auf das Qualitätskriterium bei der Bewertung der Bewerbungen gänzlich verzichteten, ja es kaum ausreichend Bewerbungen gab, war zwischen den Forderungen des Senats, die von der Hochschulleitung unterstützt wurden, und den Ansprüchen der Fakultät, die sich den Forderungen nicht beugen konnte, ein Graben entstanden, der sich mit jedem Jahr weiter vertiefte.
Die Hochschulleitung wies gegenüber der Fakultät immer wieder darauf hin, dass der Senat, sollte die Universität vertragsbrüchig werden, seine finanzielle Unterstützung einschränken und durch diese Einschränkung den Fortbestand der Universität gefährden würde. Während des digitalen Treffens im Spätsommer 2020 hat der neugewählte Präsident den professoralen Fakultätsmitgliedern ein weiteres Mal vor Augen geführt, welche verhängnisvollen Folgen ihr andauernder Widerstand gegen die Einhaltung der Hochschulverträge haben würde, nicht nur für die Fakultät selber, sondern für die gesamte Universität. Er zeichnete ein apokalyptisches Bild, um seine Kollegen und Kolleginnen verstummen zu lassen und an die Kandare nehmen zu können. War das ein guter, ein schlechter, ein mittelmäßiger Präsident?