«In Deutschland lesen sich viele Rezensionen, zumindest in Fachzeitschriften, wie Gerichtsurteile», schrieb uns der Historiker Jürgen Osterhammel, als wir ihm von unserem Plan erzählten, eine Berlin Review zu etablieren. Ja, gut, deutschsprachige Menschen im Allgemeinen und Akademiker im Besonderen saugen den Plauderton nicht gerade mit dem Vollkornmüsli auf, aber haben sie nicht vielleicht andere Qualitäten? Man verbeißt sich hier lieber ineinander, anstatt sich lustvoll zu umspielen. Man schwatzt nicht, sondern legt dar, was ja auch sein Gutes haben kann. «Keine Behauptung ohne Beleg» ist einer dieser Sätze aus dem Grundkurs Wissenschaftliches Arbeiten, von dem ich mich erst nach Jahren richtig lösen konnte. Wer ständig etwas nachzuweisen hat, kommt erst gar nicht in die Verlegenheit, auch mal was Eigenes zu sagen.

Genauigkeit ist wichtig, wer sich aber zu tief in die Details vergräbt, der verliert etwas, das auch im humanitären Völkerrecht wichtig ist: den Sinn für die Verhältnismäßigkeit. Vielleicht hat es mit dem vielen Bildschirmlesen zu tun oder mit einer algorithmischen Überstimulation, jedenfalls kommt es mir seit einigen Jahren so vor, als seien bei fast allem, was in Deutschland diskutiert wird, die Proportionen verrutscht. Die Prioritäten stimmen nicht. 95 Prozent der Energien zu einem beliebigen Großthema werden auf einen Ausschnitt von vielleicht 5 Prozent dieses Themas investiert – und oft sind das nicht die Aspekte, die am dringlichsten oder interessantesten sind. Man muss gar nicht mit dem Nahostkonflikt anfangen, um dieses Missverhältnis zu illustrieren. Ein geleaktes Konzeptpapier zum Heizungsumbau versenkte das gemeinschaftliche Projekt einer Regierung, bevor sie überhaupt anfangen konnte, programmatische Gesetzesvorlagen zu schreiben. Die vermeintlichen Superkräfte deutscher Waffen für die Ukraine wurden in einer Ausführlichkeit diskutiert, die umgekehrt proportional war zu ihrer Wirksamkeit auf dem Feld. Und wenn im Norden von Gaza Hunderttausende erst ausgebombt, dann ausgehungert werden, während Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt ist, durch Waffenlieferungen und ausgesetzte Hilfsleistungen gegen die Völkermordkonvention zu verstoßen, dann scheint das irgendwie ein Spezialinteresse von Nahostbesessenen zu sein, aber nichts, was deutsche Meinungsführer breit diskutieren. Die Bundesregierung soll ja eine schriftliche Bestätigung bekommen haben, dass die israelische Armee mit deutschen Waffen keine Kriegsverbrechen begeht. Was wäre also noch zu diskutieren?

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Die Zeit verwendete im Frühjahr die erheblichen Ressourcen ihres Investigativressorts auf den Nachweis, dass in Gaza tatsächlich Kinder an Hunger sterben. Arztbriefe wurden eingesehen, Grenzübergänge besucht, der Reporter Yassin Musharbash flog mit einer jordanischen Frachtmaschine über die Trümmerfelder von Gaza. Den Hungertod eines Jungen konnten die acht Autor:innen lückenlos rekonstruieren, mit ärztlichem Gutachten und Videos von seiner Familie. Von fünf weiteren Familien erhielten sie die Bestätigung, dass ihre Kinder wirklich an Dehydrierung und Mangelernährung gestorben waren, wie vom Krankenhaus in Beit Lahia angegeben. Man erfährt vieles aus der Reportage, auch über die politische Obstruktion von Hilfslieferungen. Ist es aber nicht auch etwas deplatziert, vielleicht sogar obszön, die Todesursache der Kinder so akribisch zu hinterfragen, wenn UN-Agenturen und zig Hilfsorganisationen über Monate nach Worten ringen, um eine apokalyptische Hungerkrise zu beschreiben? «Angaben palästinensischer Mediziner im Gazastreifen werden im Westen oft misstrauisch aufgenommen. Viele sind beim palästinensischen Gesundheitsministerium angestellt, das in Gaza von der Hamas dominiert wurde», wissen die Chronisten der Zeit.

Als im September im Libanon Tausende Pager und Funkgeräte explodierten, war das deutsche Twitter voll gleißender Häme. Inhaber von Hisbollah-Beepern sind hier keine Menschen, deren Würde unantastbar ist. Statt über Implikationen für die Technologiesicherheit zu sprechen, über psychologische Kriegsführung und über eine – im Wortsinn – Spirale des Terrors, vielleicht auch an nebenstehende Kinder und Unbeteiligte zu denken und an eine Generation von Kriegskrüppeln, deren Feindschaft zu Israel für Jahrzehnte gesichert sein dürfte, interessierten sich deutsche Medien vor allem fürs Technische: Wie hat die IDF das nur hinbekommen und – für Deutsche immer besonders wichtig – inwiefern war es legal? Insofern, als die Hisbollah seit einem Jahr Raketen auf Nordisrael schießt, erklärte der Völkerrechtler Stefan Talmon der SZ. Ob im Moment der Explosion wirklich alle Geräte bei legitimen Zielen waren und wie die kollateralen Opfer im Verhältnis zum militärischen Nutzen stehen, das wisse aber nicht mal die IDF. Je mehr Hisbollah-Kämpfer starben, desto legitimer die Aktion, folgerte der Interviewer Ronen Steinke, «zumindest nach den Regeln des Völkerrechts». Das ist juristisch vielleicht nicht falsch, aber ist es auch ein Kriterium, das dem Realitätscheck standhält? Wenn die Dinge in politisch-moralischer Hinsicht schwierig werden, dann wechselt man in Deutschland gerne auf die rein juristische Verfahrensebene. Das war immer auch ein Ausdruck von Eskapismus. Es ist eine schlechte, belastete Tradition.

Wer ein «Palestine will be free»-Schild über den Berliner Hermannplatz trägt, nimmt auf den Nahostkonflikt keinen Einfluss. Die Frage, ob man es tun darf, ohne von der Polizei angegangen zu werden, ob dieser kommunikative Akt in die Antisemitismusstatistik eingeht und mit welchen sozialen oder juridischen Sanktionen er belegt ist, hat sich unter der Rubrik «Staatsräson» verselbständigt und ist zu einem Gradmesser für die Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in Deutschland geworden. Zeitungstexte lesen sich wie Gerichtsurteile, und umgekehrt kommen die interessantesten Texte, die sich mit eigentlich feuilletonistischen Fragen befassen, zunehmend von den Gerichten selbst. Das Landgericht Mannheim entschied im Mai, dass der Spruch «From the River to the Sea» wegen seiner langen, mehrdimensionalen Bedeutungsgeschichte prinzipiell straflos verwendet werden kann. Keineswegs muss man ihn als Kennzeichen der verbotenen, verfassungswidrigen Hamas werten, wie es zuvor das Bundesinnenministerium angeordnet und wie einzelne Verwaltungsgerichte geurteilt hatten.