ParadeRachel Cusk übers. v. Eva Bonné
SuhrkampJuli 2024 25 € 171 S.
IntermezzoSally Rooney
ClaassenSept. 2024 24 € 496 S.

Manche Autor:innen liest man, weil sie Maßstäbe setzen. Rachel Cusk und Sally Rooney sind Paradebeispiele dafür, und ich gebe schamlos zu, dass ich jeden ihrer Romane gebannt erwarte, genau wie ich in Paris schamlos auf den Eiffelturm steigen oder in Linz ein Stück Linzer Torte essen würde. All dies sind Dinge von unbestrittener Qualität, wobei es von den Umständen abhängt, wie sehr ich sie dann tatsächlich genießen kann: lange Warteschlangen zum Beispiel, keine Seltenheit bei einer Rooney-Premiere. Doch selbst erschwerte Bedingungen werden mich wohl kaum davon abhalten, auch die kommenden Bücher von Rooney und Cusk wieder zu kaufen, zu lesen und einigen Spaß an ihnen zu haben.

Die Bezugnahme auf eine Norm ist immer heikel, vor allem wenn man es mit Cusks intellektuell einnehmenden Werken oder mit den minutiösen Machenschaften in Rooneys Beziehungs-Polygonen zu tun hat. Einerseits überschreiten diese Autorinnen die Maßstäbe, die sie setzen und zu denen sie geworden sind, ständig selbst; andererseits müssen sie wohl oder übel hinter ihren eigenen Standard zurückfallen. Die Sackgasse der Norm, die unauflösbare Dialektik von Zuviel und Zuwenig, lässt sich bestens in den Rezensionen ihrer jüngsten Werke beobachten – und ich mache mir hier die Gelegenheit zunutze, mit dem Abstand von zwei bzw. vier Monaten nach Erscheinen von Parade und Intermezzo etwas darüber zu sagen, wie sie aufgenommen wurden.

Sowohl in den englisch- als auch in den deutschsprachigen Medien fiel das Urteil über die beiden Romane, gelinde gesagt, durchwachsen aus, wobei in der Regel die vorherigen Werke als Maßstab gesetzt wurden, den die neu erscheinenden nicht erreichen. Dieser Bewertungsmaßstab diente den Kritiken als gemeinsamer Bezugspunkt – von den bissigen Hot Takes der Süddeutschen Zeitung oder dem Guardian zu den detailreichen Kontextualisierungen im New York Magazine oder der London Review of Books. Zu jeder Zeit das Gesamtwerk im Blick, legen sie allesamt Wert auf Rooneys Status als «Stimme ihrer Generation» und Cusks intellektuelle Reife. Während Rooney außergewöhnliche Sexszenen mit messerscharfen Dialogen paart, so heißt es, konfrontiert Cusk «die Wahrheit der Kunst» mit dem gesellschaftlichen Struggle von Frauen. Beide Autorinnen schreiben nicht nur enorm lesbare Bücher, sie zeigen uns auch, was wir vom Gegenwartsroman als solchem erwarten dürfen.

Wir werden sehen, was davon stimmt. Sicher ist, dass sich die Kritik mit solchen Rückgriffen auf eine Norm nicht selten den Weg verbaut, einem bestimmten Roman in seinen Grundprämissen zu folgen, das heißt: die Entscheidungen einer Autorin als integralen Aspekt des Werks hinzunehmen, als Teil einer eigenständig imaginierten Welt. Gerade in solchen Feinheiten weichen Parade und Intermezzo vom Status Quo ihrer Urheberinnen ab, und gerade diese Nuancen sind doch das, was wir Kritiker:innen betrachten sollten, wenn wir darauf bedacht sind, bei der Prüfung literarischer Standardwerke unsere ureigenen, kritischen Standards nicht zu unterlaufen.

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«Ich sehe, was du da tust!»

Intermezzo ist der vierte Roman von Sally Rooney, die um die 26 gewesen sein muss, als ihr Debüt Conversations with Friends durch die Decke ging. Als ihr zweiter Roman Normal People herauskam, arbeitete ich in einer großen, unabhängigen Buchhandlung in London. Heute kommt es mir vor, als hätte ich in den sechs Monaten nach seinem Erscheinen ausnahmslos Exemplare dieses einen Buches verkauft, das zur Grundlage für die gleichnamige Serie mit Daisy Edgar Jones als Marianne und Paul Mescal als Connell in den Hauptrollen wurde. Conversations with Friends und Normal People waren zartfühlende, ausgewogene und monumental erfolgreiche Romane über so unnötig wie unausweichlich überkomplizierte romantische Beziehungen, angereichert mit jeder Menge historischem Materialismus und einer ordentlichen Prise Zeitgeist. Wie die Kritik immer wieder betont, bekennt sich Rooney dezidiert zum Marxismus und einer pro-palästinensischen Einstellung. Und zwischen den Liebenden in ihren Geschichten herrscht ein soziökonomisches Machtgefälle, das uns zum Nachdenken über den Klassenkampf in unseren Herzen anregt.