17. November, 2:13 Uhr
Mit dem Geheul einer Sirene aus meinem Telefon wache ich auf. Das Geräusch packt mich wie der Lorde-Song 400 Lux, der mit einer Sirene beginnt, die dann dreißig Sekunden lang in Schleife läuft. Klingt so der generische, universale Sirenensound? Ein Warnsignal, kurz vor einem Luftangriff, gemischt in einen Popsong über Sonnenuntergänge?
Wir sind in Warschau, der ersten Etappe auf dem Weg nach Kyjiw. Ich habe die Luftalarm-App installiert, und meine Angst – und mit ihr meinen Schlafmangel – um einen Tag nach vorne verlegt.
Mit der Befürchtung im Nacken, der Krieg könnte die Grenze nach Polen überschritten haben, schalte ich den Alarmton aus.
13:35 Uhr
Ankunft am Bahnhof von Chełm, wo alles aus der Zeit gefallen scheint. Schon bei der Einfahrt begrüßt uns das Rauschen des odjazdy, so heißt die Anzeigetafel, die Runde um Runde dreht, um sich auf den neuesten Stand zu bringen. Jedes ihrer schwarzen Felder enthält in Gelb das gesamte Alphabet und die Ziffern 0 bis 9. Unzählige Felder wirbeln umher, um auf den Zahlen und Buchstaben zu landen, die der Fahrplan fordert. «Kyiv-Pas 15:59» erscheint als zweiter Zug auf der Tafel. Er fährt über Nacht und soll gegen fünf Uhr morgens in der Hauptstadt ankommen.
18. November, 00:45 Uhr
Die Nachricht, dass Biden die Lieferung von Langstreckenraketen genehmigt hat, dringt in den Zug. Ein nervöser Fahrgast will im Gang seine Familie beruhigen. «Es ist alles in Ordnung, wir sind hier in Sicherheit.» Der Zug rattert auf den Schienen und ich versuche einzuschlafen. Eine Reihe metallisch klingender Klicks wecken in mir die (irrationale?, unbegründete?) Angst, der Zug könnte auf Minen geraten.
4:51 Uhr
Ankunft in Kyjiw-Passaschyrskyj, dem Kyjiwer Hauptbahnhof. Mit seinen Gängen voll mit Menschen und Produkten, die um Aufmerksamkeit buhlen, erinnert er mich an den Barra Funda Terminal, den Fernbusbahnhof in São Paulo. Man gibt uns eindringliche Anweisungen, keine Fotos oder Filmaufnahmen von Bahnhöfen und anderen strategisch bedeutsamen Orten anzufertigen. Sie könnten die russische Kriegsmaschine befeuern.
10:31 Uhr
Mit dreizehn Personen in einem Minibus, der postsozialistischen Variante der marschrutkas, auf dem Beresteiski Prospekt. Durch mein Fenster schaue ich auf eine grüne Fußgängerampel. Zweiundfünfzig Sekunden dauert es, um die Straße zu überqueren. Es sind die kleinen, alltäglichen Dinge, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Werden so Kriegslandschaften exotisiert?
Ein Mensch überquert die Straße, auch mitten im Krieg. Ein Autofahrer verunglückt, verstößt gegen die Regeln des Verkehrs, im Krieg. Alles geschieht wie bisher, nur wie brutal verschleppt in eine neue Umgebung. Von nun an kommt keine Handlung mehr ohne die unheilvolle adverbiale Ergänzung aus: im Krieg. Man heiratet im Krieg, trennt sich, macht seinen Abschluss und kündigt. Man gründet Familien im Krieg, bringt Kinder auf die Welt, adoptiert eine Katze, zieht von dieser in eine andere Stadt, stirbt, wie es heißt, eines natürlichen Todes.