Familiengeheimnisse
Mit 21 wurde mir ein Familiengeheimnis anvertraut: Meine Urgroßmutter mütterlicherseits war versklavt worden. Mein Urgroßvater war Sklavenhändler gewesen. Meine Mutter sagte es mir eines Nachmittags im Auto, als wir vor dem Haus meines Großvaters in Khartum parkten. Es war Mitte der 2000er. Ich erinnere mich, dass sie leise wurde, obwohl wir allein waren. Was sie sagte, war Tabu. Ich hatte diese Familiengeschichte noch nie gehört.
An jenem Tag erzählte mir meine Mutter die Geschichte so, wie sie ihr selbst überliefert worden war: Meine Urgroßmutter war irgendwann in den 1910er Jahren entweder in den Südsudan oder in das Grenzgebiet des Südsudan entführt worden. Obwohl die Briten den Sudan mehr als ein Jahrzehnt zuvor kolonisiert hatten, um den Sklavenhandel zu beenden, versklavte man in dieser Hauptquelle für den transsaharischen Sklavenhandel damals immer noch Menschen, insbesondere im Süden und in den Grenzgebieten.
Als meine Urgroßmutter verschleppt wurde, war sie noch ein Kind. An jenem Tag schlug man in ihrem Heimatdorf Alarm, als ein Sklavenfängertrupp gesichtet wurde. Ihre Mutter – meine Ururgroßmutter – sammelte die Kinder ein, und sie versteckten sich in Höhlen. Die Angreifer schossen. Die Schüsse waren so laut, dass meine Urgroßmutter dachte, sie kämen aus dem Inneren des Verstecks. Sie geriet in Panik und war hinausgestürzt, bevor ihre Mutter sie aufhalten konnte. Draußen warteten die Sklavenfänger. Sie wurde mehrere hundert Kilometer Richtung Norden nach Khartum verschleppt, wo sie schließlich mit ihrem Eigentümer, meinem Urgroßvater, «verheiratet» (und wahrscheinlich von ihm vergewaltigt) wurde. Sie sollte ihre Mutter, ihre Geschwister oder andere Familienmitglieder nie wiedersehen. Niemand in unserer Familie kennt ihren indigenen Namen; wir kennen nur den arabischen, den mein Urgroßvater ihr gegeben hatte: Karima. Die Großzügige.
Mein Urgroßvater, der Sklavenhändler, war ein Mann aus Oberägypten, der sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in Khartum niedergelassen und dort durch den Sklavenhandel und den Erwerb von wertvollem Ackerland am Nil ein Vermögen aufgebaut hatte. Er hatte mehrere Ehefrauen (im Einklang mit islamischen Regeln bis zu vier gleichzeitig), von denen er sich regelmäßig scheiden ließ, um sie durch neue zu ersetzen. Er hatte auch Konkubinen. Er war für seine Vorliebe für versklavte Frauen bekannt – im sudanesischen Arabisch als «siriyaat» bekannt, abgeleitet vom Wortstamm «sir», was so viel bedeutet wie «geheim». Meine Urgroßmutter war eines seiner längerfristigen offenen «Geheimnisse». Er heiratete sie offiziell und hatte acht Kinder mit ihr. Es war ungewöhnlich für ihn, dass er sich nie von ihr scheiden ließ.
Ob meine Urgroßmutter aus dem eigentlichen Südsudan oder aus den Nuba-Bergen, dem nördlichen Grenzgebiet stammte, ist ungewiss. Mein Großvater, ihr Sohn, war sehr dunkelhäutig und könnte als Südsudanese durchgehen. Er hatte die Gesichtszüge, die enorme Körpergröße und die schmalen Knochen, die das Volk der Dinka aus dieser Region auszeichnen. Aber die Erwähnung von Höhlen in der Geschichte meiner Urgroßmutter deutet darauf hin, dass es sich um die Nuba-Berge gehandelt haben könnte, das hügelige Grenzgebiet zwischen Nord- und Südsudan, wo sich die Nuba auch heute noch in Höhlen verstecken, um sich vor den Bomben und Kanonen der seit der Unabhängigkeit in der Gegend wütenden und verwüstenden Kriege zu schützen, auch vor dem aktuellen.
Sexuelle Gewalt in Sudans konterrevolutionärem Krieg
Die Geschichte meiner Urgroßmutter beschäftigt mich im Zusammenhang mit dem Krieg im Sudan. Im April 2023 kam es zwischen zwei Generälen – Abdel Fattah al-Burhan, Chef der sudanesischen Streitkräfte SAF, und Mohamed Hamdan «Hemeti» Dagalo, Chef der Rapid Support Forces (RSF) – zum Konflikt. Beide Männer gehörten der alten Diktatur von Omar al-Baschir an, der den Sudan von 1989 bis 2019 regiert hatte. Baschirs Herrschaft endete mit der Dezemberrevolution 2018/2019, bei der es zu massiven Protesten der Bevölkerung gegen sein Regime kam. Die beiden Generäle gehörten zu jenen, die ihn 2019 entmachteten, und verbündeten sich anschließend zu einem Staatsstreich im Oktober 2021, mit dem sie den Zivilisten der Übergangsregierung gewaltsam die Macht entrissen.
Nachdem sie die Revolution zum Scheitern gebracht hatten, gerieten sie selbst aneinander. Seit bald zwei Jahren zerstören sie nun das Land in ihrem Machtkampf. Nach UN-Schätzungen wurden bis Oktober 2024 durch diesen Krieg 14 Millionen Menschen vertrieben. 25 Millionen – die Hälfte der Bevölkerung – sind von Hunger bedroht. Mindestens 150.000 Menschen wurden getötet. In weiten Teilen des Landes gibt es keine Nahrung, kein sauberes Wasser, keine Unterkünfte, keine Medizin und keine Gesundheitsversorgung. Grausame Massaker sind beinahe an der Tagesordnung, vor allem im westlichen Sudan (Darfur), im südlichen Sudan (Süd-Kurdufan und seit kurzem auch im Bundesstaat Weißer Nil) und im Zentralsudan (Khartum und al-Dschasira).
Sexuelle Gewalt wird in diesem Krieg systematisch von den Milizen der Rapid Support Forces eingesetzt, in geringerem Maße auch von der Armee. Auch Männer und Jungen sind Opfer, auch wenn es darüber weniger Informationen gibt. Kleinkinder im Alter von einem Jahr und Frauen im Alter von bis zu 75 Jahren sind bereits Opfer von Übergriffen geworden. Es gibt Berichte über Frauen und Mädchen, die so grausam sexuell gefoltert wurden, dass sie an ihren Verletzungen starben; über Mütter, die sich selbst anboten, um ihre Kinder zu verschonen, oder die gezwungen wurden, für Miliz-Angehörige zu kochen, die in ihre Häuser eindrangen, sich dort niederließen und abwechselnd in verschiedenen Räumen ihre Töchter vergewaltigten. Auf der Suche nach Nachrichten bin ich in den sozialen Medien auf Vergewaltigungsvideos gestoßen – jemand nimmt heimlich einen Übergriff auf eine Nachbarin im Hinterhof gegenüber auf. Manchmal machen die Miliz-Angehörigen selbst Videos von ihren Taten. Hunderte von Mädchen und Frauen sind verschwunden. Entführt, zu sexueller Sklaverei verurteilt, ermordet – niemand weiß genau, was mit ihnen geschehen ist.