Dass Dresden die Hauptstadt des deutschen Rechtsintellektualismus wurde, ist meine Schuld. Nicht allein meine, aber doch maßgeblich. Zwar schäme ich mich gewöhnlich, dies zuzugeben, und verstecke mein besseres Wissen hinter akademischem Geplänkel, doch ist es nun endgültig Zeit, dieses Spiel aufzugeben. Vor kurzem fragte mich Durs Grünbein auf einer Tagung in Neapel, dieser wunderbaren Stadt zwischen unterirdischen Eruptionen und einem Himmel, der schon das Paradies andeutet, wie ich den Umschwang im Verhalten und Denken nicht nur der uns beiden, sondern ganz Deutschland bekannten Kulturunternehmer und Buchhändler erklären würde. Allein, mitten in meinen Ausführungen wurde ich von der Dichterin Olga Martynova unterbrochen, die möglicherweise ahnte, was ich hätte antworten können, oder der Argumente müde geworden war, die ich normalerweise anführe. Wie dem auch sei, ich schreibe hier, um Zeugnis abzulegen. Solange auf dem «Vesuv von Dresden» nur die Rauchfahne weht, ist dazu noch Zeit.
Als eine Art dibbuk, oder als jettatore, als von meiner Unordnung stiftenden, um nicht zu sagen: diabolischen Kraft nichts Ahnender – eine Kraft, derer sich ein anderer bedient, dessen Pläne nun wirklich unvorhersehbar sind –, traf ich im jugendlichen Alter auf die für die rechtsintellektuelle Metropolengründung unverzichtbaren Akteure. Vorausgegangen war diesen Begegnungen eine Zeitschrift, ein Samisdat-Epigone, die ungefähr ab 1997 in Dresden herausgegeben wurde. Ihren antiquarischen Regionalruhm muss ich hier mehren: Zuerst auf Schreibmaschine entworfen und mittels Kopierer, später per Digitaldruck vervielfältigt, trug sie den Namen Kassandra und kam «umsonst» in den sächsischen Buchhandlungen und Cafés zum Ausliegen.
Das Genie aufstrebender Germanisten bewies sich an dieser Zeitschrift, Buchhandlungen in Moskau und London wurden «durchschritten» (was einen Verriss durch die Leipziger Volkszeitung provozierte), aber auch Erzählungen von Bitow, Venclova sowie Schalamow erstmals übersetzt, Werkstattgespräche mit Hans-Joachim Schädlich oder Imre Kertész geführt (Letzteres löschte sich von selbst von der Mikrokassette des Aufnahmegeräts, aber das ist eine andere Geschichte), Erstveröffentlichungen von Volker Braun, Reinhard Jirgl und Kurt Drawert eingeworben. Unterstützt wurde dieses Periodikum, in dem ich mich so kulturpessimistisch gab, wie man es nur in jungen Jahren ungestraft sein darf, von Buchhandlungen, später Verlagen. Und auch vom Buchhaus Loschwitz, einem der Protagonisten dieser Geschichte.
Ein junger Arzt als Verseschmied
Angesichts solcher geistiger Höhenflüge war die große Zahl von Gedicht- und Prosaeinsendungen nicht verwunderlich, deren wir schwer Herr wurden. Etliche heute durchaus namhafte Autoren haben bei uns ihre ersten Veröffentlichungen nicht bekommen; aus lauter Snobismus lehnten wir sie ab. Einer aber schaffte es: der Dresdner Unfallarzt und Verseschmied Uwe Tellkamp. Er hatte gerade ein Langgedicht verfasst, das die Elbe in einen mythischen Fluss verwandelte, auf dessen Grund die sedimentierte Zeit, ja alle Zeit, zu finden war, und zwar durch einen Nautilus. Dieses Gedicht war in die Hände eines experimentellen Kleinverlegers gelandet, dessen Cannabiskonsum zu erhöhter Vergesslichkeit führte. Er konnte sich ebensowenig an gestalterische Absprachen erinnern wie Rechnungen begleichen. Sein Verlag stand vor dem Aus – und wir sollten Tellkamps Werk retten.