Philosophie der MusikChristoph Türcke
C.H. BeckFeb. 2025 38 € 510 S.

Es hat etwas Kleinliches und erregt den Verdacht persönlichen Ressentiments, wenn eine Rezension sich an der Haltung des Autors abarbeitet, statt sich nüchtern der Sache zu widmen. Aber manchmal geht es nicht anders. Die Positionierung und der Gestus Christoph Türckes prägen seine Texte so sehr, dass ihr Inhalt kaum von ihnen losgelöst werden kann; das gilt insbesondere für die gerade erschienene Philosophie der Musik. Damit die Auseinandersetzung mit diesem Gestus die Darstellung des Inhalts nicht vollständig überlagert, werde ich sie getrennt in einem zweiten Abschnitt behandeln. Welchen von beiden sie zuerst lesen, sei den Leser*innen überlassen.

1. Der Inhalt

Philosophie der Musik ist ein Titel, der mit einem gehörigen Anspruch daherkommt: sicher nicht alles, aber doch das Entscheidende über «die Musik» zu sagen. Dass der Singular in einem so eingeführten Kontext problematisiert wird, ist kaum zu erwarten (und es geschieht auch nicht). Türcke hat eine klare Position: Eine Philosophie der Musik muss an deren Ursprung gehen, der mit dem Ursprung des menschlichen Geistes zusammenhängt, und alles Weitere auf diesen Ursprung beziehen – nicht als Maßstab, sondern als nicht wirklich vergangenes Geschehen, das immer wieder auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Formen aktualisiert wird, als «relativ Erstes, Ungeheures, dem alles weitere zu entfliehen sucht». Die Utopie, «der opferlose, ungetrübte Einklang von Tier- und Menschenlaut», soll der Fluchtpunkt dieser Bewegung sein, die sich doch immer wieder mit diesem Ursprung auseinandersetzen muss.

Um diese Bewegung zu beschreiben, arbeitet Türcke mit drei Formeln: «Rückgang in den Grund», «Gegenstoß in sich selbst» und «von weit, weit her». Die ersten beiden stammen aus Hegels Wissenschaft der Logik und hängen eng miteinander zusammen: Von Anfang an habe sich die Musik von sich selbst abgestoßen, um zu sich selbst zu kommen. Der Grund, in den die Musik zurückgeht, stehe allerdings nicht fertig am Anfang; erst in der Vorwärtsbewegung begründe sie sich selbst. Als Grundfigur für die Entwicklung des Geistes findet Türcke diesen Gedanken Hegels «bizarr»; in der Musik und nur dort hält er sie für plausibel. «Von weit, weit her», die dritte Formel, stammt aus einem Text seines Bruders Berthold Tuercke über Mahler, wo es um das Anklingen von Archaischem im Modernen als fernes, kaum festzumachendes und doch alles prägendes Echo geht. Durch die ständige Wiederholung werden diese Formeln von Denkfiguren, die gedankliche Strenge suggerieren bzw. unerfüllte Sehnsucht anklingen lassen, zu einer Art Beschwörung.

Das Buch gibt der Vergangenheit einen deutlich größeren Raum als der Gegenwart, wie weit man diese auch fassen mag: Nach ausführlichen Kapiteln über die menschliche Frühzeit, die Entstehung der griechischen Tragödie, die Herauslösung der Musik aus der mousiké und die Entwicklung der christlichen Musik kommen wir erst auf Seite 388 von gut 500 bei Haydn an, und noch einmal fünfzig Seiten später im 20. Jahrhundert. Ausnahme sind die neun «Intermezzi», die Türckes fünf Hauptteile – «Akte» – unterbrechen und den Rückbezug des Späteren auf das Frühere anhand von Beispielen konkretisieren. Eine Auseinandersetzung mit außereuropäischer Musik sucht man vergebens. «Die Musik» mag eine afrikanische Vorgeschichte haben, aber ihre Geschichte bleibt eine europäische und später US-amerikanische Angelegenheit.

Hintergrund für Türckes Nachdenken über Musik ist seine Theorie der Menschwerdung, die er 2008 in seiner Philosophie des Traums entworfen hat. Sein äußerst spekulatives Verfahren, das sich an Freuds energetischer Theorie der Psyche anlehnt, nennt er «Mentalarchäologie». Ihr Ausgangspunkt ist eine Hypothese über das ursprüngliche Verhältnis zur Welt, das Türcke zufolge von Angst und Schrecken geprägt sein muss. Wir kennen dieses Motiv von Adorno, auf den Türcke sich immer wieder bezieht, aber weder dort noch hier wird eine Begründung oder nachvollziehbare Plausibilisierung angeboten.

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Auf die Ursituation Angst und Schrecken folge ein zweistufiger Prozess, den Türcke in Anlehnung an Freud als «Triebumkehr» bezeichnet: Zuerst werde der Fluchtimpuls des Einzelnen in die Gruppe zurückgewendet und abgelenkt in Richtung Menschenopfer, das in rituelle Zusammenhänge eingebunden und durch sie abgefedert wird; in einem zweiten Schritt wandere die rituelle Handlung ins Innere der Beteiligten und bringe eine innere Bilderwelt hervor. Aus seiner Vorstellung einer durch und durch von Gewalt geprägten Frühzeit ergibt sich für Türcke wie von selbst, «daß Opfern der Inbegriff menschlichen Handelns, die menschenspezifische Tätigkeit schlechthin ist». Menschliches Handeln ist traumatischer Wiederholungszwang, menschlicher Geist Traumabewältigung.

Es ist aufschlussreich, mit welchen scheinbar unschuldigen Formulierungen ein solcher Prozess plausibilisiert wird: «gewiß», «konnte es nicht ausbleiben», «selbstverständlich», «wird man […] zu suchen haben», «hatte allen Anlaß», «läßt sich dennoch erschließen», und immer wieder «dürfte». Die Philosophie des Traums lehnt sich am weitesten aus dem Fenster, wenn Türcke schreibt: «Auch wenn die zugänglichen Fakten allein für einen Beweis nicht ausreichen, kann es sich nach menschlichem Ermessen schlechterdings nicht anders verhalten.» Was soll man da noch einwenden?

Wer diese eigenwilligen Voraussetzungen aus Türckes Traum-Anthropologie nicht zu teilen bereit ist, der wird auch mit dem Buch über Musik seine Schwierigkeiten haben. Die These, wie Musik konkret entstanden sein soll, ist krasse Spekulation: Das Opfer wurde, so Türcke, begleitet vom Schrei, der ein «Überschreien des Opfers und das Hervorrufen der imaginären höheren Gewalt» zugleich war. Dieser Schrei werde schließlich zum Eigennamen dieser Gewalt und von dort her zum doppelten Ausgangspunkt sowohl von Sprache als auch von Musik. Während die Sprache auf dem Benennungspotential dieses existenziellen Urschreis aufbaue, widme sich die Musik der Entfaltung seiner klanglichen Dimension.