In der Oktober-Ausgabe der Berlin Review hat A. Dirk Moses Theodor W. Adornos Essay «Erziehung nach Auschwitz» von 1966 sowie einige andere Texte des Philosophen, Soziologen und Musikwissenschaftlers einer Relektüre unterzogen. Moses versucht dabei nachzuweisen, dass Adorno in Deutschland instrumentalisiert werde, um die israelbezogene Staatsräson der Bundesrepublik zu rechtfertigen. Adorno komme als jüdischem Remigranten eine besondere Autorität zu, die von nichtjüdischer, deutscher Seite benutzt werde, um eine aus Moses’ Sicht verbrecherische Politik zu legitimieren, nämlich Deutschlands «nahezu bedingungslosen Rückhalt für Israel» im Allgemeinen und insbesondere während des, wie Moses schreibt, «israelischen Zerstörungskrieg[s] in Gaza».

Im Zuge seines Essays trägt Moses starke Thesen vor, die nicht alle gesondert begründet werden. Dies betrifft die Bewertung des Krieges in Gaza, die Anklage, dort finde ein Genozid statt und dieser werde unter anderem von Deutschland ermöglicht, das Wesen von Auschwitz, die Bedeutung des Kolonialismus, den Stand der Meinungsfreiheit in Deutschland, die Einstellung ‹der Deutschen› zu Israel und vieles mehr, wozu ich hier nicht im Einzelnen Stellung beziehen will. Stattdessen möchte ich mich auf Moses’ Rezeption der Frankfurter Schule beschränken, die es allerdings notwendig macht, auch die anderen genannten Themen mitunter zu streifen.

Moses’ Text ist durch zwei Pole gekennzeichnet, deren Aufeinanderprallen er als einen tiefgreifenden Kulturkampf beschreibt, der Deutschland nachhaltig verändern werde. Der eine Pol ist die sogenannte Staatsräson – ein in letzter Zeit überstrapazierter Begriff, der sich von Angela Merkels Knesset-Rede im Jahr 2008 herleitet, in der sie die «historische Verantwortung für die Sicherheit Israels als Teil der Staatsräson meines Landes» bezeichnet hatte. Moses deutet diese Staatsräson als Resultat einer partikularistischen Interpretation des Holocaust, der als singuläres Verbrechen verstanden werde.

Der andere Pol seiner gedanklichen Konstruktion ist die Solidarität mit allen Unterdrückten dieser Erde. Dies sei die universalistische Lehre aus dem Holocaust und sie beziehe sich nicht nur auf die von den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Juden, sondern auf «Auschwitz, Hiroshima, Vietnam». Angesichts des Gazakrieges, den Moses als «genozidale Offensive» und als «organisiertes Massenmorden» eines «Ethnostaates» bezeichnet, sei die Solidarität mit Palästina die konsequente Schlussfolgerung des Universalismus nach Auschwitz.

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Moses’ Methode besteht darin, die beiden «unterschiedlichen Vorstellungen vom Bösen» – die partikularistische und die universalistische – anhand der Rezeption der Kritischen Theorie zu diskutieren. Der Ausgangspunkt ist dabei sein Aufenthalt als Fellow am Frankfurter Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung im vergangenen Sommer, der ihm vor Augen geführt habe, wie präsent die Kritische Theorie in Frankfurt ist. Es gibt dort, so bemerkt er, einen Adorno-Platz und eine Horkheimer-Straße, und ja, auch zahlreiche Wissenschaftler, die sich mehr oder weniger explizit auf die Tradition der Frankfurter Schule beziehen. Die Würdigung Horkheimers und Adornos im öffentlichen Raum mag sich Moses nur als Mittel zur Rehabilitation Deutschlands erklären. Statt die nationalsozialistische Vergangenheit zu verdrängen, werde auf eine spezifische Weise an sie erinnert: «Sie werden als Juden geehrt, nicht als Marxisten; nur jene Zuschreibung vermag die gewünschte Absolution zu leisten.»

Adornos vorsichtige Israelsolidarität

«Das Böse», «Absolution», «Sünde» – wie bereits in seiner Polemik «Der Katechismus der Deutschen», die vor einigen Jahren den so genannten Historikerstreit 2.0 mitauslöste, ist auch dieser Essay voll von theologischen Vokabeln, weil Moses seinen geschichtswissenschaftlichen Antagonisten – insbesondere Dan Diner und dem hier nicht namentlich genannten Saul Friedländer – eine religiöse Sinnstiftung bzw. «politische Theologie» des Holocaust andichten will. (Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ein linker Intellektueller wie Moses damit im Jahr 2025 implizit Martin Broszats Plädoyer für eine Historisierung des Holocaust aus den 1980er Jahren aufwärmt und eine Art neues ‹Pathos der Nüchternheit› einfordert).

Anders als im Werk Diners und Friedländers haben exkulpatorische und redemptive Motive in der deutschen Erinnerungskultur in der Tat häufig eine zentrale Rolle gespielt; zu Recht verweist Moses auf Instrumentalisierungen des Erinnerns und Gedenkens, die entlastend wirken können. Doch ist die Reduktion der Erinnerungskultur auf diese Entlastungsfunktion eine eindimensionale Verzerrung. Es ist nicht nur verständlich, sondern auch wünschenswert, dass die Stadt Frankfurt und die Goethe-Universität an zwei ihrer bedeutendsten Bürger erinnern, die «als Juden» und «als Marxisten» aus der Stadt vertrieben wurden. Gleichzeitig ist die kühne Behauptung, ihrer würde nur als Juden gedacht anstatt als Intellektuelle und Gelehrte, die in der frühen Bundesrepublik große Wirkung entfalteten, schon insofern abwegig, als die Anzahl an Plätzen und Straßen mit Personennamen, die in Frankfurt nach Juden benannt sind (ca. 5 Prozent), kaum ins Gewicht fällt.