Die Liebe vereinzelter MännerVictor Heringer übers. v. Maria Hummitzsch
März VerlagOct 2024 €24 208 S.

Victor Heringers Die Liebe vereinzelter Männer beginnt mit dem Ursprung des Lebens, den der Autor mit seinem besonderen literarischen Gespür an einen Vorort von Rio de Janeiro verlegt. «Zu Anbeginn», heißt es in der saftigen Übersetzung von Maria Hummitzsch, «war unser Planet heiß, gelb und stank nach schalem Bier. Der Boden war verdreckt von kochendem, klebrigem Schlamm. Die Randbezirke von Rio de Janeiro waren das Erste, was in die Welt kam, noch vor Vulkanen und Pottwalen, noch bevor die Portugiesen einfielen und bevor Getúlio Vargas den Bau von Sozialwohnungen befahl.»

Man sollte die Art, wie Heringer seine Stadt zum Nabel der Welt erklärt, nicht mit den Selbstmythologisierungen verwechseln, die Leser:innen des globalen Südens von New Yorkern und Pariserinnen gewohnt sind. Weit weniger glamourös, vollzieht Victor – es ist in Brasilien üblich, Künstler und sogar Politikerinnen schreibend beim Vornamen zu nennen – eine Art geopolitischen Bildbruch. Weder die Stadt, die niemals schläft, noch die der Lichter, steigt Rio de Janeiro aus einem «Urlehm» empor, «der sich in verschiedene Formen fügte: frei herumlaufende Hunde, Fliegen und Hügel, einen Bahnhof, Mandelbäume, Bretterhütten und Stadthäuser, Kneipen und Munitionsdepots, Kurzwarenläden, Jogo-do-Bicho-Stände und ein riesiges, für den Friedhof reserviertes Stück Land.» Und die Menschen? Die lassen «nicht lange auf sich warten. Auf den Straßen sammelte sich so viel Staub, dass dem Mensch keine andere Wahl blieb, als in Erscheinung zu treten und sie zu kehren, sich am späten Nachmittag auf die Balkone der Häuser zu setzen und über die Armut zu jammern, über andere zu lästern, auf die sonnengewaschenen Bürgersteige zu schauen, und auf die von der Arbeit zurückkommenden Busse, die alles wieder verdreckten.»

Natürlich hat ein Schriftsteller jedes Recht, die Welt dort anfangen zu lassen, wo seine beginnt: in Rio de Janeiro oder Lhasa, in Addis Abeba oder Kamtschatka. Aber gerade in einer Übersetzung für den europäischen Markt wirft die ungewohnte Zentralität der brasilianischen Metropole geopolitische und geopoetische Fragen auf, die im Reden über Literatur zu oft unter den Tisch fallen. Beim Lesen von Werken aus Ländern, die wir nicht kennen, beschleicht manche von uns das instinktive Gefühl einer Leerstelle, eines Mangels. Oder, was vielleicht noch gravierender ist: Wir glauben, das Land, das erzählt wird, zu kennen.

Ein geopolitischer Bildbruch

Victor Heringer wurde 1988 in Rio de Janeiro geboren, wo er 2018 kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag verstarb. Sein viel beachteter Roman O amor dos homens avulsos kam in Brasilien erstmals 2016 heraus und erschien kürzlich noch einmal als Teil einer Werkausgabe bei Companhia das Letras mit Prosa, Lyrik und kolumnenartigen Kurztexten, die man in Brasilien und überall sonst in Lateinamerika crônicas nennt. Doch was nützen solche Eingangsbemerkungen, Angaben zu Lebensdaten, Bibliografie usw. für das Verständnis eines brasilianischen Autors durch ein deutschsprachiges Publikum? Muss man die Insiderdebatten eines Autors mit seiner einheimischen Tradition kennen, um literarische Qualitäten besser schätzen und einschätzen zu können? Bestätigt oder unterläuft Die Liebe vereinzelter Männer die Erwartungen eines globalen Lesers an die brasilianische Literatur?

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In der zitierten Eingangsszene gibt es dazu einen ersten Anhaltspunkt. Der beiläufig erwähnte Name «Getúlio Vargas» ruft bei einem brasilianischen Leser mehr als einen historischen Kontext hervor, er stellt ihm den gesamten kulturellen Kosmos vor Augen, der mit Vargas’ Diktatur zwischen 1930 und 1945 und seiner mehr oder weniger demokratischen Rückkehr 1951 bis zum Selbstmord drei Jahre später verbunden ist. Muss ein deutscher Leser einen Begriff haben von den als Intentona Comunista geläufigen kommunistischen Aufständen von 1935? Muss er etwas wissen über die Verfolgung von Luís Carlos Prestes und Olga Benario? Über die Inhaftierung von Schriftstellern wie Jorge Amado und Graciliano Ramos? Was verbindet die eine diktatorische Episode von 1930 bis 1945 mit jener anderen von 1964 bis 1985, in der Heringers Roman spielt?