Am 11. Januar trug Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vor, dass Israels Vorgehen im Gazastreifen «völkermörderischen Charakter» habe, da «es darauf abzielt, einen wesentlichen Teil der nationalen, rassischen und ethnischen Gruppe der Palästinenser zu zerstören».1 Als Gründe führten die Anwälte die Tötung von 23.000 Palästinenser:innen an (mittlerweile beträgt die Zahl mehr als 33.000), darunter mehrheitlich Frauen und Kinder, die Vernichtung der lebenserhaltenden Infrastruktur, einschließlich Schulen und Krankenhäuser, und die nahezu vollständige Vertreibung der Bevölkerung des Gazastreifens. Israels Verteidigung behauptete am Tag darauf: «Wenn es genozidale Akte gegeben hat, dann wurden sie gegen Israel verübt»2, und forderte das Gericht dazu auf, die Klage abzuweisen und den Antrag Südafrikas auf Einstellung der Militäroperationen gegen Gaza abzulehnen.

Weniger als zwei Stunden, nachdem Israel seine Begründung vorgetragen hatte, kündigte Deutschland an, auf der Seite Israels als «Drittpartei» einzugreifen. Alle Unterzeichnerstaaten der Völkermordkonvention von 1948 können in einem Streit über die Auslegung des Vertrags «materielle Argumente» vorbringen. 2023 intervenierte Deutschland in der Völkermordklage Gambias gegen Myanmar wegen des Umgangs mit den Rohingya, um zu bekräftigen, dass die Handlungen Myanmars einen Genozid darstellten. Bezüglich der Klage Südafrikas erklärte ein deutscher Regierungssprecher: «Angesichts der deutschen Geschichte und des Menschheitsverbrechens der Shoa sieht sich die Bundesregierung der Konvention gegen Völkermord besonders verbunden.» Die Bundesregierung hat also, mit anderen Worten, Expertise in derlei Fragen, und der aktuelle Vorwurf gegen Israel «entbehrt» für sie «jeder Grundlage», er sei lediglich ein Versuch, die Konvention zu politisieren. Das Gedächtnis des Holocaust gilt als die moralische Grundlage Nachkriegsdeutschlands und Israels Sicherheit, wie Angela Merkel 2008 bekräftigte, als seine Staatsräson. Die Vorstellung, dass Israel eines Völkermords beschuldigt werden könnte – oder dass ein Völkermord mit dem Holocaust vergleichbar wäre –, gleicht daher einer Häresie.

Am 13. Januar, einen Tag nach der Verlautbarung Deutschlands, tadelte Namibias Präsident Hage Geingob (der am 4. Februar starb), dass sich Deutschland «nicht moralisch auf die UN-Völkermordkonvention berufen kann (…), wenn es das Äquivalent eines Holocaust und Genozids in Gaza unterstützt».1 Er erklärte weiter, dass «die deutsche Regierung den Völkermord, den sie auf namibischem Boden begangen hat, noch nicht vollständig gesühnt hat.»2

Tlaleng Mofokeng, die südafrikanische UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Gesundheit, gab folgenden Lagebericht: «Der Staat, der in seiner Geschichte mehr als einen Völkermord begangen hat [Deutschland], versucht die Bemühungen eines Landes zu untergraben, das Opfer von Kolonialismus und Apartheid ist [Südafrika], einen weiteren Völkermord [nämlich den Israels] zu verhindern.» Zwei Wochen später, am 26. Januar, stimmte der IGH mit einer Mehrheit von fünfzehn zu zwei Richtern dafür, dass die Behauptung, Israel verstoße gegen die Konvention von 1948, plausibel sei, und ordnete Maßnahmen zur Verhinderung genozidaler Akte an.

Mofokengs Anspielung darauf, dass Deutschland für «mehr als einen Völkermord» verantwortlich sei, fiel bezeichnenderweise mit einem historischen Datum zusammen. Der Tag der deutschen Intervention – der 12. Januar – war der 120. Jahrestag der Ereignisse, die den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts in Gang setzten, verübt von der deutschen Kolonialarmee, der sogenannten Schutztruppe. Opfer dieses Verbrechens waren die OvaHerero (in europäischen Quellen oft als Herero bezeichnet) und die Nama in einem Gebiet, das Deutschland beansprucht und unter der Bezeichnung Südwestafrika kolonisiert hatte – das heutige Namibia. Die Region war von den anderen europäischen Mächten auf der Berliner Konferenz von 1884/85, die die Teilung Afrikas formalisierte, an Deutschland abgetreten worden. Bismarcks Zweites Reich strebte nach einem Kolonialimperium, damit sich seine Macht angemessen auf der Weltbühne widerspiegeln möge, und die Gebiete, die heute Togo, Kamerun, Tansania, Ruanda, Burundi und Namibia umfassen, wurden deutsche «Schutzgebiete».

Am 12. Januar 1904 brachen in der Stadt Okahandja zwischen deutschen Truppen und OvaHerero-Kämpfern, angeführt von Samuel Maharero, Gefechte aus. Mehr als 100 Soldaten und Siedler, meist Landwirte und Missionare, wurden in den folgenden Tagen getötet, die Schutztruppe musste sich zurückziehen. Das gedemütigte Deutschland plante Vergeltung. Die OvaHerero waren Viehhirten, deren Land sich auf dem zentralen Plateau der Region befand. Die erst spät kolonisierten fruchtbaren Hügel waren vor den schlimmsten Auswüchsen des atlantischen Sklavenhandels verschont geblieben, weil die Sanddünen, die sich über Hunderte von Kilometern entlang der Küste erstrecken, sie vor den Blicken der gen Kap vorbeiziehenden europäischen Seeleute verbargen. In der Sprache der Nama/Damara bedeutet namib «Schild». Als das deutsche Protektorat gegründet war, wurde die Region sogleich zu einem idealen Kandidaten für das, was der deutsche Geograf Friedrich Ratzel 1897 Lebensraum nannte – einen Raum, den eine Spezies oder ein Volk im darwinistischen Überlebenskampf für den Selbsterhalt benötigte. Um eine deutsche Besiedlung zu ermöglichen, mussten indigene Völker weichen. Erst wurde das Land durch erzwungene Schutz- und Kaufverträge, Drohungen, Bestechungsgelder und Massaker stückweise in Besitz genommen, doch allmählich entstand Deutschafrika: eine Matrix aus Höfen, missionarischen Außenposten, Erz- und Diamantenminen und militärischen Festungen wie der in Okahandja. Ratzel glaubte, dass Südwestafrika ein Ort sei, an dem die «deutsche Rasse» ihren Charakter stählen könne. Er ließ sich von Frederick Jackson Turner inspirieren, der darlegte, dass die politische und kulturelle Identität Amerikas ein halbes Jahrhundert zuvor weitgehend durch die Erfahrungen des Wilden Westens geprägt worden sei. Die afrikanische Eroberungsgrenze wurde ganz ähnlich von Personen bewohnt, die als Untermenschen, als Teil der Natur angesehen wurden und nach Belieben ausgebeutet, vertrieben oder ausgerottet werden konnten.

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