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Am 12. Januar 1904 verübten die Herero in Deutsch-Südwestafrika, im heutigen Gebiet Namibias, eine Reihe von Angriffen auf verstreute deutsche Siedlungen. Die Herero, ein Hirtenvolk von etwa 80.000 Menschen, waren für ihr wirtschaftliches, soziales und kulturelles Leben auf ihre riesigen Viehherden angewiesen. Deutsche Siedler, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert in ihren Gebieten niederließen, beschlagnahmten zunehmend ihr Weideland.
Die Aufständischen zerstörten viele deutsche Farmen und töteten mehr als einhundert Siedler, wobei sie Frauen und Kinder meist aussparten. Die Siedler nahmen den Aufstand als endgültigen Beweis, dass die Herero, die sie in Abwandlung des englischen Wortes für Pavian «Bambusen» nannten, auszurotten seien. Unfähig, selbst die Ordnung wiederherzustellen, ließ der deutsche Gouverneur 10.000 Soldaten aus Berlin rufen. Bis August hatten diese den Herero-Aufstand niedergeschlagen. Im Oktober erließ der deutsche Befehlshaber, Generalleutnant Lothar von Trotha, den sogenannten Vernichtungsbefehl für die verbliebenen Kämpfer:

«Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. (…) Das Volk der Herero muß (…) das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.»
Die meisten Herero wurden erschossen oder verdursteten und verhungerten in der Wüste, in die sie getrieben wurden. Mehrere Tausend wurden in Zwangsarbeitslager verbracht.
Jahrzehntelang ignorierten Historiker und die Öffentlichkeit diesen ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts an den Herero und kurze Zeit später an den Nama, einer weiteren in Namibia ansässigen Volksgruppe. Die berühmte deutsche Vergangenheitsbewältigung drehte sich um den Holocaust, nicht um längst vergessene Kolonialverbrechen. Erst 2021 entschuldigte sich Außenminister Heiko Maas im Namen Deutschlands für das «unermessliche Leid, das den Opfern zugefügt wurde», und versprach mehr als eine Milliarde Euro Reparationszahlungen. Die Verteilung dieses Geldes bleibt auch deshalb umstritten, weil die deutsche Regierung sich weigert, die Herero und Nama direkt zu entschädigen. Stattdessen einigte sie sich mit der namibischen Regierung auf eine gemeinsame Absichtserklärung.
Der lange zurückliegende Völkermord am Beginn des 20. Jahrhunderts weist bemerkenswerte Parallelen mit Israels Kampagne der ethnischen Säuberung und Vernichtung im Gazastreifen auf. Ähnlich wie die Deutschen den Herero-Angriff 119 Jahre zuvor, sah Israel den Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 als ultimative Bestätigung, dass die militante Gruppe absolut wild und barbarisch sei und dass Widerstand gegen die israelische Besatzung immer in Mord münden würde, ja dass die palästinensische Bevölkerung Gazas als ganze aus dem moralischen Universum der Zivilisation gefallen sei. «Menschliche Tiere muss man auch als solche behandeln», sagte der israelische Generalmajor Ghassan Alian (der Druse ist) kurz nach dem Angriff und schloss sich damit mehreren israelischen Amtsträgern an, darunter dem inzwischen entlassenen Verteidigungsminister Yoav Gallant.
«Es wird in Gaza keinen Strom und kein Wasser geben. Es wird nur Zerstörung geben. Ihr wolltet die Hölle, jetzt bekommt ihr sie», sagte Alian in einer arabischsprachigen Videobotschaft an die Hamas und die Bevölkerung Gazas. In den folgenden siebzehn Monaten töteten die israelischen Streitkräfte mehr als 50.000 Palästinenser:innen, darunter schätzungsweise 70 Prozent Zivilist:innen, verstümmelten weit über 100.000 weitere und zwangen der übrigen Bevölkerung unmenschliche Entbehrungen, Leiden und Schmerzen auf. Ein am 19. Januar 2025 in Kraft getretener Waffenstillstand endete abrupt am 18. März, als Israel sich weigerte, zur zweiten Phase seines Abkommens mit der Hamas überzugehen, und eine Reihe einseitiger Angriffe startete. Schon in den ersten Tagen wurden Hunderte weitere palästinensische Zivilisten getötet.
Oneworld Nov. 2024 281 S.
Wirklichkeit Books Nov. 2024 123 S.
Atlantic Books Jan. 2025 172 S.
S. Fischer Feb. 2025 304 S.
New York University Press Nov. 2024 215 S.
Other Press Juni 2024 113 S.
Berl Katznelson Center März 2025 181 S.
The University of Chicago Press Juli 2024 227 S.
One World Okt. 2024 235 S.
Beacon Press März 2024 280 S.
La Découverte Sept. 2024 198 S.
In einer anderen Hinsicht sind die Ereignisse von 1904 und 2023 weniger symmetrisch. Die Deutschen konnten den Völkermord an den Herero rechtfertigen, indem sie vorgaben, gegen «Wilde» zu kämpfen – und sie konnten ihn vergessen, weil er weit weg von Europa und gegen eine Gruppe stattfand, die außerhalb Südwestafrikas niemand kannte. Auch Israelis begehen in Gaza einen Völkermord, weil sie glauben, «Wilde» zu bekämpfen. Die Rechtfertigung ihres Handelns beruht jedoch auf der Überzeugung, einem anderen Völkermord zuvorzukommen, der dem Holocaust gleichkäme und von militanten, sich für die nächste «Endlösung» warmlaufenden Hamas-Kämpfern verübt werden würde. Als einer von vielen bestand der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett darauf, dass «wir gegen Nazis kämpfen». Die Holocaust-Historikerin Dina Porat schrieb am 21. Oktober 2023 in Haaretz, die Hamas habe «einen brennenden Hass auf den Teufel kultiviert, den sie in ihrer Fantasie erschaffen hat, wie es die Nazi-Ideologie zu ihrer Zeit tat». Bei einer Umfrage im Mai 2024 gab mehr als die Hälfte der befragten Israelis an, der Hamas-Angriff habe Ähnlichkeit mit dem Holocaust.