Alle liberalen Gesellschaften haben eine Drift zum Faschismus. Bei den Krisen und inneren Konflikten, die ein auf Kapitalismus, Anhäufung und Umverteilung ausgelegtes System naturgemäß hervorbringt, ist es nur zu verlockend, all die Bedenken und Verteilungskämpfe einmal fahren zu lassen, die checks and balances niederzureißen und sich in die «große Mobilisierung der materiellen und moralischen Kräfte» einzureihen, die «die moralische und materielle Größe des Volkes sichern» will, wie Mussolini es 1921 für seine Bewegung beschrieb.

Eine klarere Definition von Faschismus als die Verbindung von Volk, Tat und Größe haben wir auch hundert Jahre und einige Völkermorde später nicht, und genauso grausam, sozialterroristisch und taktisch vage im Hinblick auf seine Implementierung gebärdet sich die MAGA-Bewegung oder, am anderen Ende der Parabel, der Putinismus. Drei Strategien gegen die faschistische Tendenz kennt die liberale Demokratie: Eingemeindung, Ausgrenzung und Repression. Bleiben wir für die Überlegung, wie sie noch oder nicht mehr funktionieren, in Deutschland.

Die besten Texte in Ihrem Postfach
Unser kostenloser Newsletter

Newsletter-Anmeldung

Die alte Franz-Josef-Strauß-Doktrin, wonach rechts von der Union nur die Wand sein darf, bedeutet Eingemeindung: Man absorbiert die extreme Tendenz, indem man sie ins eigene Bierzelt integriert. So ging das neue Westdeutschland seit 1949 mit seinem inneren Faschismus um: Erst ließ man alte Nazikader in Amt und Würden, dann dosierte die CDU/CSU das Ressentiment gegen Linke, Ausländer und andere Gegner stets so, dass denjenigen, die es brauchten, ein Restgefühl von «Volk» und «materiell-moralischer Größe» blieb.

Das ging nicht ohne Repression vonstatten, aber das System war stabil und blieb trotz staatlicher Gewaltepisoden offen für wechselnde Hegemonien und Machtverhältnisse. Faschismusdriftende Parteien wie die Republikaner oder die NPD wurden kleiner gemacht, indem die parlamentarische Rechte auf Schlüsselmomente rechter Mobilisierung – Neonazis und Migrantenpogrome nach der Wiedervereinigung, Migrationskrise der mittleren Neunziger – mit rechter Politik und rechtem Aktionismus antwortete: Grundgesetzreform mit Einschränkung des Asylrechts 1993, Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft 1999, «Kinder statt Inder». Es war nicht schön, aber es war auch nicht totalitär.

Seit der Wirtschaftskrise von 2008/09 und der Gründung der AfD 2013 funktioniert diese Strategie nicht mehr. Dass die «Alternative» sich zunächst als nationalistische und grundrechtsliberale, in jedem Fall aber «gegen den Euro» gerichtete Partei gründete, war kein Widerspruch. Es zeigte nur, wie stark das «Wir» der Westdeutschen am Ende des langen 20. Jahrhunderts zu einem exklusiv gedachten Wirtschaftskollektiv geworden war.

Diese Möglichkeit einer Selbstdefinition über D-Mark und Sozialprodukt war der deutschen Rechten durch die Integration in die Europäische Union nun genommen; das Westdeutschland der Achtziger, in das viele Ostdeutsche sich hatten eingliedern wollen, gab es nicht mehr. Gegen die Henkel-und-Lucke-AfD versuchten die Parteien des Zentrums es deshalb erst gar nicht mit Integration. Ihre Opposition gegen Maastricht-Europa, Globalisierung und Bindestrich-Identitäten war so fundamental, dass eine deutsche Bundesregierung, so sie denn hätte wollen, gar keine Handhabe besessen hätte, um der AfD entgegenzukommen, jedenfalls nicht innerhalb der herrschenden (neo)liberalen Ordnung.

Stattdessen also die Strategie der Ausgrenzung: keine Zusammenarbeit, keine Absprachen, keine Plattform und keine diskursive Toleranz für die AfD. Wie dieses Instrumentarium eines Antifaschismus in der Cut-Up-Kultur des Internets funktionieren soll, ist heute unklarer denn je. Die AfD gewinnt bekanntlich auf TikTok und seit Musks faschistischer Wende endgültig auch auf X. In den Worst-of-AfD-Zusammenschnitten, die weiterhin im Kampf gegen sie verwendet werden, sieht man dieselben Videoschnipsel wie vor fünf oder sieben Jahren: Gaulands «Vogelschiss», Höckes «erinnerungspolitische Kehrtwende um 180 Grad», das «Denkmal der Schande».

Dass die AfD längst mit ganz anderen Vibes und Hegemonie-Tools operiert, findet jeder heraus, der sich mal einen Strategietalk von Martin Sellner anhört. Als Caren Miosga in einer der Vorwahl-Talkshows versuchte, Alice Weidel ein x-tes Mal wegen ihres Gebrauchs des Begriffs «Schuldkult» zu entlarven, unterlief ihr ein Zitierfehler, was Weidel sichtlich genoss. Friedrich Merz’ überstürzt-gescheiterter Versuch, vor der Neuwahl in Stimmgemeinschaft mit der AfD eine sogenannte Migrationswende durchzubringen, hat das über Jahre gewachsene Konstrukt des Ausschlusses eines parlamentarisch, medial und mental längst Eingeschlossenen – aka die Brandmauer – vielleicht nicht völlig zerstört, aber doch entscheidend geschwächt. Politisch effektiv war es schon länger nicht mehr, jetzt ist es nicht mal mehr taktisch glaubwürdig.

Den liberalen Demokraten bliebe eine dritte Vorgehensweise, diese ist aber die schwierigste: Repression. In der BRD wurden bisher zwei Parteien verboten, 1952 die offen nationalsozialistische SRP, und 1957, in der Hochphase des Kalten Krieges, die Kommunistische Partei. Das Verbotsverfahren der NPD musste 2003 gestoppt werden, weil in deren Parteiführung zu viele Informanten des Verfassungsschutzes saßen, was nicht nur über die NPD, sondern auch über den Staatsschutz zu denken gibt. Es ist nicht klar, ob man sich als Demokrat:in vor dem Verfassungsschutz, der die Demokratie schützen soll, besser selbst Acht nehmen muss, derart fließend sind die Übergänge zwischen ihm und dem rechtsextremen Lager, und derart intransparent seine Befugnisse und Tätigkeiten.

Besonders repressive Kulturpolitiker – nicht von der AfD – forderten jüngst, der Verfassungsschutz solle in Zukunft Förderanträge von Künstlern oder auch Wissenschaftlerinnen auf Konformität mit verschiedenen Antidiskriminierungsklauseln prüfen, in denen die israelbezogene Staatsräson zum Ausdruck kommt. Ein solide recherchiertes Buch von Ronen Steinke zum Staatsschutz endete 2023 mit dem Fazit «Warum wir den Verfassungsschutz nicht brauchen». Der im letzten Bundestag ausgearbeitete fraktionsübergreifende AfD-Verbotsantrag mag gut argumentiert sein, um ihn gegen die nunmehr 20-Prozent-Partei durchzusetzen, ist es wohl zu spät.

Unterstützen Sie Berlin Review
Abos ab 6 € / Monat

Abos ansehen

Was bleibt also zu tun? Viele solcher Texte enden mit einer grüblerischen Enthaltung, die den Antifaschismus nicht weiterbringt, weil sie so vage ist wie die Definition des Faschismus selbst. Das ist frustrierend, liegt zum Teil aber auch an der Unübersichtlichkeit der Situation und an dem Anspruch, eine gewisse analytische Distanz nicht aufgeben zu wollen. Wenigstens zwei Gedanken.

Emmanuel Macrons Kalkül, nach der verlorenen Europawahl im Juni 2024 die Nationalversammlung aufzulösen, soll darin bestanden haben, den Rassemblement National einmal an die Regierung kommen zu lassen, solange er selbst noch Präsident ist. Die Partei, gegen die in Frankreich seit 45 Jahren mit allen Eigenheiten des Wahlsystems und einer, wenn es drauf ankommt, widerständigen Bevölkerung eine Brandmauer betrieben wird, soll gleichsam aus der Opposition gelockt werden – auf dass sie die nächste, wichtigere Wahl um die Präsidentschaft wieder verliere. Ironischerweise ging Macrons Plan wegen einer kurzlebigen, aber elektoral beeindruckend mobilisierenden Volksfront der Linken nicht auf.

Man mag Macrons Kalkül schrecklich finden, aber er ist ein (wenn auch innenpolitisch bisweilen autoritärer) Liberaler. Seine Wette setzt darauf, dass die Rechten sich in die Alternanz des Systems werden einbinden lassen: Sie können mal gewinnen, dann aber auch wieder verlieren, so wie Trump 1, die FPÖ oder nach hartem Kampf die PiS in Polen. Deutschland hat kein präsidiales System, eine AfD-Regierungsbeteiligung würde nicht durch eine noch höhere Autorität abgefedert werden, und manche Veränderungen sind, wie man am polnischen Justizwesen sieht, nur schwer reparierbar. Trotzdem muss man als linker Stratege inzwischen überlegen, wo und unter welchen Umständen eine Zusammenarbeit zwischen Union und AfD nicht nur der Union, sondern auch der AfD schaden könnte. Man soll sich sowas nicht wünschen, aber kann man unendlich die Augen davor verschließen?

Was Deutschland jetzt zunächst bekommen soll, ist neben der Angst vor einem äußerlichen Feind, die schon immer Mächtiges bewirkt hat, ein durch freiere Verschuldung induzierter Bau- und Rüstungsboom. Dass man den Faschismus durch massives Investment in Infrastruktur und Wohlfahrtsstaat bekämpfen könne, behaupten Policy-Analysen von Mariana Mazzucato, Isabella Weber und anderen seit Jahren. Dass mehr Schulden, mehr Wachstum und mehr Panzer in einer Merz-Klingbeil-Koalition auch weniger Kulturkampf und Hass gegen Migranten bedeuten werden, klingt allerdings unwahrscheinlich. Ob eine solche Brandmauer auf Steroiden bei der ohnehin schon wuttreibenden Inflation nicht auch ein Risiko ist, müssen die Ökonom: innen wissen. Es ist besser als die Zauderei der vergangenen Jahre – die strategische Aporie ändert es nicht.

Es gilt deshalb, und das ist der zweite Gedanke, sich auch in Deutschland auf postliberale Zeiten einzustellen. Minderheiten (und auch Leser:innen dieser Zeitschrift) wissen, dass es mit dem Vorrang des Völkerrechts, den Demonstrations- und Versammlungsrechten, der Wissenschaftsfreiheit und anderen Grundrechten längst nicht mehr so weit her ist wie die meisten denken, und all diese Bastionen werden geschleift, ohne dass die AfD irgendwo mitgestimmt hätte. Einen breiten Widerstand gegen diese autoritäre Rutschbahn sehen wir bisher nicht. Die Mitte jedenfalls muss den Abschied von liberalen Gewissheiten und Routinen zur Kenntnis nehmen und vor allem aufhören, sich weiszumachen, sie sei nicht Teil des Problems.

Es ist nicht gesagt, dass das derzeitige politische System auch das beste, geschweige denn gegenüber dem KI- und Technofeudalismus überhaupt ein lebensfähiges ist. Die Herausforderung von Musk und MAGA besteht darin, ein völlig anderes Tempo vorzulegen. Was wäre eine Kettensäge von links, welcher Ressourcen und Fähigkeiten bedarf es, um sie zu schwingen und zu welchem Zweck? Die Rechten haben die Liberalen (zumindest vorläufig) besiegt, weil sie ihre Schwächen korrekt analysiert und effektiv gegen sie gewendet haben. Die Linken und mit ihnen die Liberalen müssen ihre Gegner genau studieren und sich dann etwas Besseres überlegen – etwas, das auch funktioniert.

Nicht mehr nur das Private, alles ist politisch – auch das ist eine Signatur faschistoider Zeiten und eine der Bedingungen, unter denen wir unsere Zeitschrift für Bücher und Ideen machen. Dennoch – oder gerade deshalb – finden die meisten Texte in unserem dritten Reader über einen Seitenweg zum Politischen, der einen Gegenstand klar umreißt, bevor er den Blick auf größere Zusammenhänge freigibt.

«There are certain authors that one reads because they define a standard», schreibt Miriam Stoney im Reader 3, und zu diesen lässt sich auch Victor Heringer zählen, der 2018 kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag in Rio de Janeiro Selbstmord beging. Er hinterlässt ein funkelndes Werk, das mit seiner Lust am geopolitischen Bildbruch der Wirklichkeit viel näherkommt als das an den Mainstream anschlussfähigere Midcult-Erinnerungstheater, das auch in Brasilien die Aufarbeitungsdebatten dominiert. Ricardo Domeneck stellt seinen Landsmann ausführlich vor und fragt, wie gut ein Lesepublikum im globalen Norden einen Autor aus dem Süden verkraftet, der ihm nicht das bestellte Gebräu aus Gewaltexzessen und Geisterglaube serviert.

Auch Miriam selbst befragt die Hierarchien des globalen Lesens, allerdings aus der entgegensetzten, anglophonen Perspektive: Kaum jemand hat in den vergangenen fünfzehn Jahren stärker definiert, wie der Gegenwartsroman zu sein habe, als Sally Rooney und Rachel Cusk, weswegen ihre jüngsten Bücher nicht immer überwältigend, aber eben auch nie missraten sind. Florian Fuchs und Clara Miranda Scherffig beugen sich über zwei Filmschaffende, die erkennbar am Erbe deutscher Kultur des 20. Jahrhunderts mitgeschrieben haben, dabei aber unterschiedlicher kaum hätten sein können: Harun Farocki und Leni Riefenstahl. Paul B. Preciados Frontalangriff auf Jacques Audiards binär-koloniale Totalkatastrophe Emilia Pérez erinnert daran, dass man bei allem hermeneutischen Origami auch immer mal wieder mit dem Vorschlaghammer rezensieren muss, und Diedrich Diederichsen benötigt für seine Anamnese völkisch-libertärer Allianzen keinen anderen Gegenstand als die rohe Aktualität.

Mit Stories von Samanta Schweblin, Karosh Taha und Ulrich Peltzer setzt unser dritter Reader stärker als die bisherigen auf die literarische Einbildungskraft und ihre Fähigkeit, die Sinne für das zu schärfen, was zählt. Zusammen mit Fotografien von Anne Lass saugen sie uns von Screens und schummrigen Außenfassaden in die unheimlichsten Innenräume hinein. An eine andere Grenzlinie führt derweil Fatin Abbas’ großer Essay, der den Reader 3 eröffnet: Es ist, wie schon in Fatins Roman Zeit der Geister, die Grenze zwischen Sudan und Südsudan. Sie rekonstruiert die an Brutalität kaum zu überbietende Geschichte der Kriege um Rohstoffe, Selbstbestimmung und ethnische Vorherrschaft, die im Sudan seit Jahrzehnten von verschiedenen Militärs mit reichlich Unterstützung von außen geschrieben wird. Die systematische Gewalt gegen Frauen in diesen Konflikten hat eine Vorgeschichte, die bis in die Zeit des transsaharischen Sklavenhandels zurückreicht und in Fatins Familienhistorie traumatische Ablagerungen hinterlassen hat.

«The present is a vanishing relationship» lautet ein Mantra der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Spivak, das nicht aufhört, aktuell zu sein. Die meisten Texte in diesem Reader scheinen erst einmal weit weg von der Tagesaktualität in Deutschland und Westeuropa, sind es aber nicht und wären darum auch nicht weniger wichtig. Die binäre Unterscheidung vom Eigenen und Anderen war schon immer ein Hoax, aber kaum irgendwo zeigt sich derzeit deutlicher als in Berlin, wie unrettbar falsch und gleichzeitig unabweisbar mächtig sie ist.

Bewältigen lässt sich das nur mit den Mitteln einer diasporischen Vernunft, deren Kritik Elad Lapidot in seiner «Verteidigung Judith Butlers» unternimmt. Aria Abers Roman Good Girl ist ein eindringliches Resultat der diasporic condition, wie sie der vergangenes Jahr vom Max-Planck-Institut in Halle geschasste Ghassan Hage als Buchtitel auf den Punkt gebracht hat – stellvertretend für so viele epochemachende Intellektuelle, die in Deutschland derzeit unerwünscht sind. Maxi Wallenhorst hat den Roman gelesen, den Aber selbst aus dem englischen Original ins Deutsche übersetzt hat.

Wenig überraschend kehrt die deutsch-afghanische Protagonistin Nila am Ende des Romans Berlin den Rücken – schließlich hört die Stadt seit dem Sommer der Hausbesetzungen von 1990 nicht auf, zu Ende zu gehen. Nun scheint es, als wäre es auch nicht das Richtige, beim Verlassen der Stadt jeden Blick über die Schulter zu unterdrücken. In Erstarrung vor den Berliner Mythenbildungen sollte man dabei nicht fallen; und damit das nicht geschieht, gibt es Berlin Review.

Unterstützen Sie Berlin Review
Abos ab 6 € / Monat

Abos ansehen